Und wieder ein Massenmord an Schüler:innen in den USA („Amerika und sein Waffen-Elend“, Kurier, 26.05.2022, S. 3; Amerika und sein Waffen-Elend | Kurier (genios.de) ), und wieder Kritik an den Republikanern als Fürsprechern der Waffenlobby (National Rifle Association, NRA) … und wieder Ruf nach strengeren Waffengesetzen … dafür aber Waffenverbotskontrollen morgen (27.05.) bei deren Jahrestagung der NRA in Houston (Texas) damit dort nichts passiert.

Viele Angehörige der psychiatrisch-psychotherapeutischen Berufsstände, nicht nur ich, verweisen seit langem darauf hin, dass sich das „wirk“-liche „Waffenarsenal“ im menschlichen Gehirn befindet und dass die „Aufrüstung“ schon lange vor der Ver“wirk“lichung der mörderischen Phantasien bemerkbar wäre … man müsste halt wahr-nehmen und deeskalierend reagieren. Ich habe in in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends zu Gewalt im schulischen Bereich geforscht und meinem multidisziplinären Stil entsprechend mit Opfern wie auch potenziellen Tätern gesprochen. In meinem Buch „Feindbild Lehrer?“ (aaptos Verlag 2009, bestellbar bei mir) gibt es mehrere Beiträge – Titel eines von mir dazu – zum „Phänomen School-Shooting – Ätiologie und Prävention“.

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Vergangene Woche wurde über zwei Bildungseinrichtungen berichtet, in denen es zu „Missbrauchsfällen“ gekommen sein soll.

Diese Formulierung entspricht der Unschuldsvermutung, und die hat so lange eingehalten zu werden, bis es eine rechtskräftige Verurteilung gibt – nur gerichtskonforme Beweise allein entkräftigen sie nicht. Es ist ja auch Sache der Gerichte, den jeweilig inkriminierten Sachverhalt einem Tatbestand zuzuordnen – und auch das ist nicht immer leicht und muss gelegentlich sogar während des Strafprozesses geändert werden. Richter:innen müssen ja auch die Menschenrechte der Beschuldigten schützen – das gehört zu ihren Gerechtigkeits-Pflichten.

Das alles erklärt zum Teil, weswegen sich so viele Aufsichtsbehörden mit ihren Schutzpflichten schwertun: Sie wollen erst ein möglichst präzises Bild der zur (internen?) Anzeige gebrachten Vermutungen gewinnen, bevor sie ihre Amtsverschwiegenheit aufgeben. Der andere Teil des Verstummens aus Schock oder Taktik, wer weiß, liegt in mangelnder Kommunikationskompetenz. Denn wenn heute auch vielfach ausbildungs- oder institutionsintern Kommunikationsseminare angeboten werden (und der – nicht immer freiwillige – Besuch nicht immer Erfolge zeitigt), fehlen den meisten Unterrichtenden einerseits die eigenen Erfahrungen im Bewältigen extrem herausfordernder Gespräche im Zwischenbereich zwischen Recht und Psychologie, und nur durch Lesen von Fachliteratur kann man höchstens Theorien vermitteln, nicht aber die Einstellungen und Stimmungen, die in Stresssituationen helfen, kühlen Kopf und eine deeskalierende Sprache zu gewinnen und zu bewahren.

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Herman Melvilles berühmter Roman „Moby Dick“ beginnt mit dem Satz des Ich-Erzählers „Nennt mich meinethalben Ismael“. Das macht die Kommunikation leichter: Er stellt sich vor.

In den Salzburger Nachrichten von Samstag, 21. Mai 2022, Seite 13, lese ich die Überschrift „Falsche Anrede soll sexuelle Belästigung sein“ und im Artikel, die Schulbehörde einer Mittelschule im US-Bundesstaat Wisconsin habe den Streit um die korrekte Bezeichnung eines oder einer nicht-binären Mitschüler:in als sexuelle Belästigung „eingestuft“. Daraus schließe ich, dass die weiterhin weibliche Anrede durch die Mitschüler in keinem wertschätzenden Ton erfolgt ist. Offensichtlich konnten oder wollten diese den vermutlich intersexuellen Kollegen nicht als ihresgleichen akzeptieren – oder hänseln.

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In einem Wiener Kindergarten soll es zu sexuellen Übergriffen gekommen sein („Missbrauchsverdacht im Kindergarten und Vertuschungsvorwürfe“, Der Standard, 17.05.2022, S. 9) – und das vor gut einem Jahr. (Der Pädagoge wurde umgehend vom Dienst enthoben, heißt es im Artikel.)

Nachdem trotz Bitte um Verschwiegenheit die Informationen mit großer Zeitverzögerung an die betroffene Elternschaft und in der Folge in die Medien gelangte, steht der Vorwurf der Vertuschungsabsicht im Raum. Der kann nur entkräftet werden, wenn minutiös alle Schritte zur Behandlung der Vorkommnisse nachgewiesen werden – genau dafür gibt es Dokumentationspflichten – und diese dann beweisen, dass eben nicht vertuscht wurde. (Dazu: Ich kenne aus Beratung und Supervision viele Fälle aus mehreren Bundesländern, in denen nicht nur vertuscht, sondern auch gedroht und eingeschüchtert wurde – die sind aber schon lange her.)

Was dabei vergessen wird: Es liegt an der fehlenden Fachsprache, wie in solchen Fällen exakt zu formulieren wäre. Denn spontan werden die meisten dazu berufenen Personen von Empörung erfasst – und in der Hochemotion lässt sich nicht leicht vernünftig denken.

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Soeben hat mich eine entsetzte Kultur-Expertin kontaktiert und mir das Festwochen-Plakat zu „Madame Butterfly“ gemailt – und ich bin jetzt ebenso entsetzt: Noch geschmackloser geht es wohl nicht.

Bekanntlich handelt Puccinis tragische Oper von der sexuellen Ausbeutung einer Japanerin durch einen verantwortungsscheuen amerikanischen Soldaten, der sie mit ihrem Kind im Stich lässt, heimgekehrt eine Amerikanerin heiratet und dann zurückkommt, um „seinen“ Sohn nach Amerika zu holen. (Auch das überlässt er feig seiner Ehefrau.) Butterfly suizidiert sich darauf mit dem Dolch ihres Vaters nach dem Ehrencode der Samurais: Sie begeht Harakiri – sie schlitzt sich den Bauch auf (und dabei fällt man normalerweise nach vorne).

Auf dem Plakat sieht man hingegen ein auf dem Rücken mit geöffneten blutbeschmierten Beinen hingestreckt liegendes Mädchen mit geschlossenen Augen – ob sie lebt oder tot ist, bleibt unklar, aber: Was suggeriert wird, ist, noch dazu ästhetisiert, der Zustand nach einer brutalen Vergewaltigung.

In einer Ausstellung in geschlossenen Räumen oder in einem Kunstbuch würde mich diese Darstellung nicht entsetzen – aber im öffentlichen Raum auf Plakaten?

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„Influencer bewerben Junkfood für Kinder“ war am 10. Mai 2022 in den Salzburger Nachrichten zu lesen (Seite 14), und dass drei Viertel der beworbenen Produkte so ungesund sind, dass sie gegen die Werbestandards der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Kinder verstoßen. Das ergab eine Studie vom Zentrum für Public Health der MedUni Wien, die auf dem Europäischen Adipositas-Kongress in Maastricht präsentiert wurde.

Dazu: Weltweit gelten 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen als übergewichtig oder adipös.

Überhaupt Influencer: Klient:innen berichten mir von Bekannten (weiblich), die ihren Beruf als Influencer:innen angäben. Geben die ihre Posts und Videos auch eindeutig als bezahlte Werbung an? Laut der oben zitierten Studie ist das nicht der Fall.

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Manche sagen, der Muttertag gehört endlich abgeschafft, er sei nicht mehr zeitgemäß, weil wir ja seit den späten 1970er Jahren im Zeitalter der Elternpartnerschaft leben – und er außerdem nur dem Geschäft mit Blumen und Bonbonieren dient.

Und außerdem: Was nützt schon verlogenes Gedenken und Ehrungen, wenn nach wie vor Männer die Mütter ihrer Kinder misshandeln und ermorden – und die Männer, die das nicht tun, dazu wegschauen und schweigen?

Ich habe in meinem Eröffnungsvortrag zur Aufführung von „Stabat mater“ von Antonio Vivaldi (1678–1741) am Karfreitag, 15.04.2022, im Auditorium Grafenegg einen anderen Gedenk-Blickwinkel als den der um den gekreuzigten Sohn trauernden Mutter Maria gewählt – nämlich den der Mütter, die ihre Söhne nicht von ihren Berufungen abhalten können. (siehe Redekonzept zu –> „Den Schmerz ertragen“)

Meist so um das Alter zwischen 15 und 25, wenn sich der Nachwuchs kritisch mit der Lebensweise der Eltern und sonstigen Nächsten auseinandersetzt – und oft sehr weit auseinander – werden die Grenzen zwischen dem Alten und dem Neuen sichtbar. Das allein macht vielen schon Angst.

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Rotraud A. Perner

Den Schmerz ertragen

Gedanken zu Karfreitag 2022

 

Konzept Eröffnungsvortrag am 15. 4. 2022 zu „Stabat mater“ von Vivaldi im Auditorium Grafenegg

 

Zuerst möchte ich mich für die Einladung bedanken, nicht nur als Psychoanalytikerin wie auch evangelische Theologin und Pfarrerin (ja – das verträgt sich!) und ursprünglich Juristin, sondern vor allem als mit Maria (auf deren Namen ich u. a. auch getauft wurde) mitfühlende Mutter von Söhnen diese soeben zitierten unterschiedlichen fachlichen Sichtweisen darstellen zu dürfen.

 Das vermutlich im 13. Jahrhundert entstandene liturgische Gedicht „Stabat mater“ (von mir ungereimt übersetzt) „Es stand die Mutter“ – „dolorosa“ – „voller Schmerzen“ – „iuxta crucem lacrimosa …“ – „dicht beim Kreuze tränenreich“ – „dum pendebat filius“ – „da der Sohn hing“, gehört zu den Texten wie auch Bildern, denen in der Zeit des 14. bis 16. Jahrhunderts Heilwirkung zugesprochen wurde. Das sehe ich auch so – und weshalb, möchte ich hier erklären.

Denken wir zuerst an die wohl berühmteste Darstellung des Leidens der Mutter Jesu im Angesicht der Hinrichtung ihres Sohnes im beherrschenden Bild der sogenannten „Alltagsseite[1] des Isenheimer Altars – eines Seuchenaltars – von Matthias Grünewald (vulgo Mathis Got(t)hardt Neithardt oder Matthaeus von Aschaffenburg, geboren um 1470, gestorben 1528): Leichenblass scheint Maria gleich das Bewusstsein zu verlieren und wird von Johannes gehalten, um nicht zu Boden zu stürzen. Das ist der Zustand im Unerträglichen: kleinste Kinder fallen einfach um und schlafen ein, wenn ihnen etwas zu viel wird – Erwachsene halten sich fest, setzen sich nieder oder aber verlieren das Bewusstsein – außer sie entscheiden sich zu protestieren, zu schreien, zu jammern – so wie Maria Magdalena, die auf dem Altarbild vor dem Kreuz kniet.

Die Mutter Jesu aber schreit nicht – sie seufzt nicht einmal. Sie hält die Lippen geschlossen.  

Sie erträgt.

Sie atmet nach innen.

Karl-Heinz Menzen (* 1942), Gastprofessor für Kunsttherapie an der Wiener Sigmund Freud Privatuniversität,[2] schreibt, „in damaliger Auffassung waren Meditationsbilder wie die Grünewalds „quasi medicina“, also im heutigen Sprachgebrauch Heilmittel, von denen Heilung und Gesundung ausgehen konnten, wenn der Betrachter sich in das Leben Jesu oder hier des hl. Antonius versenke, sich mit deren Leiden identifizierend.“[3] – eine gleichsam homöopathische (Gleiches mit Gleichem) Heilmethode.

Identifikation und Mitgefühl

Im Isenheimer Altar gibt es neben der Verkündigung der verlegen lächelnden Maria auch eine Darstellung der voll Liebe strahlenden „Maria mit dem Kinde“. Damit können sich viele Eltern, Großeltern oder Wohlmeinende gut identifizieren: Wer möchte nicht gerne am Glück Anderer mitnaschen?

Jedoch nicht allen fällt es ein oder gar leicht, sich mit diesen positiven Vor-Bildern zu identifizieren, obwohl auch dies Heilwirkung hätte: Die zärtliche Zuwendung zu dem Kleinen, Hilflosen, Hilfsbedürftigen, Pflege- und Schutzbedürftigen ist etwas, das viele Menschen ein Leben lang nährt und stärkt, wenn sie diese – und wenn  auch nur wenige Male – erlebt  haben, oder andernfalls unbewusst ersehnen, denn in diesen Fällen spürt man das Herz sich weiten; es verengt sich aber, wenn sie diese Reaktion in unbewusstem Neid als Sentimentalität abgelehnt oder gar verboten wird (wie es vermutlich Judas Iskariot tat).

Man bräuchte einfach nur sein Herz zu öffnen und mit-zu-fühlen. (Heute – seit Mitte der 1990er Jahre – wissen wir durch die Entdeckung der Spiegelnervenzellen dank der bildgebenden Verfahren in der Gehirnforschung, wie genau das abläuft und können es auf dem Bildschirm sichtbar machen.)

Bei totaler Identifikation hingegen droht Verlust der personalen Eigenständigkeit. (Auf psychiatrische Erläuterung verzichte ich, sie ist für das Vorbild Maria unerheblich.)

Demgegenüber lade ich ein, in der Wortwahl von Mitgefühl und Identifikation nach der Sinngebung zu unterscheiden:

Im Mitfühlen, in der Empathie, spürt man „am eigenen Leib“, wie es jemand Anderem geht und bleibt dennoch man selbst, in der Identifikation (Stichwort „Helfersyndrom“: man gibt Anderen, was man selbst bräuchte) übernimmt man einiges, viel oder manchmal auch alles von jemand Anderem – denken Sie an die Kunst der Darsteller:innen auf Bühne oder Filmset – und steht dann vor der Herausforderung der bewussten Ab- bzw. Ausgrenzungen bzw. Rückkehr zu dem eigentlichen Selbst.

Maria fühlt mit – und sie erreicht damit die Grenze des Erträglichen. Aber sie erträgt. Würde sie sich identifizieren, würde sie eine Selbstverletzung wählen oder eine Verschiebungs-Handlung.

Herzöffnung

Das Unerträgliche ertragen zu können, hat mit „Herzöffnung“ zu tun.

Das Herz ist ein Muskel, daher ist es „flexibel“.

Wenn man liebt (was nicht dasselbe ist wie der Zustand der Verliebtheit oder des Begehrens), dehnt sich das Herz: es „weitet“ sich um all die Begeisterung und Beglückung aufzunehmen, die man von dem, was auch immer man liebt, empfängt … (sehr schön nachvollziehbar in der Arie „Sieh mein Herz erschließet sich“ in der Oper „Samson und Dalila“ von Camille Saint-Saens) … und irgendwann bildet sich dieses Hochgefühle wieder in den Alltagszustand zurück.

Aber wenn das, was geliebt wird, in Gefahr ist, wenn es geschädigt wird oder gar zu Tode kommt – und das kann nicht nur der Tod eines geliebten Menschen sein, sondern auch eines anderen „Schatzes“, eines Berufes aus Berufung etwa, oder, hochaktuell, der Heimat, „reißt es einem das Herz wieder auf“ – und dies ohne Schäden zu überleben – psychisch, geistig, aber manchmal sogar körperlich – braucht helfende Bedingungen, Beistand – so wie ihn Maria von Johannes erlebtoder Vor-Bilder.

Wer schon einmal in solch einer Situation war, in der man glaubte, das Leben nicht mehr ertragen zu können, weiß wie es sich anfühlt, wenn es „einem den Boden unter den Füßen wegzieht“, und wenn man diese Situation „überlebt“ hat, weiß man rückblickend, dass und wie man dann Halt gebraucht und bekommen hat – von außen oder aber von innen.

Außen, das ist Solidargemeinschaft, aber deren „Geist“ kann auch im „Spirit“, in der „Seele“ der Natur, manche Tiere inbegriffen, oder Kunst (Mitgefühl und Ausdruckskraft begnadeter Künstler:innen) sein – und da besonders in der Musik – in der nämlich, die einem „das Herz weit macht“, sei es aus Liebe oder aus Trauer: Man trauert nur echt, wenn man echt geliebt hat – sonst ist es nur Selbstdarstellung, Pflichterfüllung – oder camouflierte Angst oder Wut.

Man muss Liebe, Schmerz und Trauer selbst gefühlt haben, um sie in Klang umzusetzen – den der Instrumente oder den der Stimme. Deswegen haben sich ja auch so viele große Komponisten der Vertonung der Verse des „Stabat mater“ gewidmet – nicht nur Pergolesi oder Vivaldi, sondern auch Haydn, Schubert, Rossini, Liszt, Dvorak, Verdi oder Penderecki und viele mehr.

Innen – das umfasst das „selbst gefühlt haben“, doch dazu gehört auch, nicht nur dem schnellen Impuls und schnellen Beseitigungs-Handeln nachzugeben, sondern der bewussten autosuggestiven Aufforderung zur Verlangsamung – zur Entschleunigung, wie sie beim Betrachten oder Zuhören entsteht und mit ihr die „Dehnung“ des Herzens.

Auf Schmerz folgt ja zumeist eine spontane schnelle Zusammenkrampfung: Man reagiert mit Angst (vom lateinischen angustus, eng) und verkleinert instinktiv die Angriffsfläche des Körpers: Man nimmt die Schultern hoch und nach vorn und schützt damit den verletzlichen Oberkörper und – man hält den Atem an. Der Feind soll einen ja nicht hören. Damit wird aber der Zustand der Angst und des Still-Haltens verlängert und außerdem die Herzdurchblutung vermindert und damit der Organismus geschädigt.

Diese Herzverengung kann aber auch entstehen, wenn sich jemand zwanghaft vor Gefühlen, daher auch Mitgefühl, schützen will – wie der Pharao, dessen „verstocktes“ d. h. verkrampftes Herz erst nach dem Tod seines Erstgeborenen „aufbricht“ (2 Mose 7, 10 und 29 – 32).

Ins Herz hineinzuatmen – oder dorthin, wo der Schmerz sitzt und zu wachsen scheint – hilft, ihn zu ertragen, wenn auch die Gefahr der Hyperventilation zu Bewusstseinsverlust, Ohnmacht führen kann. Deswegen war es auch so sensationell, als mit den Anleitungen zur sogenannten „sanften Geburt“ Frauen vermittelt wurde, wie sie mit Hilfe des gezielten verlangsamten Atems ihr Schmerzerleben vermindern können – körperlich.

Was hingegen zu wenig vermittelt wird, ist die Wirkkraft des Atems zur Bewältigung von Schmerz und Leid.

Akzeptanz

Maria – wie auch Johannes – halten in der Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars die Lippen geschlossen, und beider ruhige Körperhaltung lässt vermuten, dass sich ihre Atmung verlangsamt haben: Maria atmet ein – „contemplari“ heißt es im Gedicht – „ohn alles Klagen“ übersetzte Herinrich Bone 1847 – und akzeptiert damit das Unvermeidliche, und gleichzeitig gleitet sie in den heilsamen Trancezustand, dem sie sich anvertrauen kann, weil sie nicht allein ist.

Akzeptanz ist eine der Stärken Marias.

Schon im Lobgesang Marias bei der Verkündigung („Magnificat“, Lk, 1, 46 – 47 und 51 – 52) wird die Seelen- wie Geisteshaltung Marias deutlich: Vertrauen und Hingabe, auch wenn die Zukunft offen ist, komme was da wolle, „ein Liebes oder Leides“, wie es in dem Gedicht „Herr! Schicke was du willt“ des evangelischen Pfarrers und später Literaturprofessors Eduard Mörike (1804 – 1875) heißt[4].

So gelingt Mutter sein: Vom Im-Körper-wachsen-spüren, gebären, reinigen, pflegen, trösten, spielen, lehren – und lernen, dem Kind das eigene Leben lassen. Auch wenn das dessen Lebensgefahr bedeutet.

Das ist wohl das Schwerste.

Karfreitag 2022: Wieder zittern in nächster Nähe viele Mütter um das Leben ihrer Kinder, wenn diese Ansichten oder Verhaltensweisen wagen, die „den Mächtigen“ missfallen (und das beginnt oft beim leiblichen Vater), wenn sie Protest wagen … oder aber sich trauen, sich der Staatsmacht zu entziehen – zu desertieren, fliehen, in den Untergrund gehen … aber  Mütter zittern ebenso, wenn sich ihre Söhne (und zunehmend auch Töchter) der staatlich oder ideologisch geforderten Wehrpflicht unterwerfen.

Auch Maria, hat wohl voll Sorge versucht, ihren Sohn Jesus von seiner Berufung abzuhalten (Mt 12,47 – 50[5]) – aber da war er schon auf seinem Weg und weg von dem ihren.

Immer wieder kommen Mütter zu mir in meine psychotherapeutische Praxis, die von Schuldgefühlen geplagt werden, weil ihre Söhne – kaum Töchter – nicht dem entsprechen, was Familie oder Gesellschaft als Produkt einer erfolgreichen Erziehung erwarten. Hin- und hergerissen zwischen „zentrifugaler“ Liebe des fälligen Los-Lassens und „zentripetaler“ geforderter Pflichterfüllung, das Kind der „Norm“ anzupassen, wagen viele Mütter als die noch immer allein prädestinierte Erziehungsverantwortliche nicht, der Liebe (ihrem Herzen) zu folgen – auch wenn das bedeutet, die Angst hinsichtlich möglicher Gefährdungen und Gefahren (nörgelnde Verantwortungs-abstinente Väter als Stressfaktor mitgemeint) zu ertragen. Beide – der    Norm nicht entsprechende – Mutter wie Kind, gelten dann als böse, verantwortungslos – Störfaktoren. In Diktaturen sind sie von den gleichen Repressalien bedroht wie Jesus – Verhaftung und Schläge, Folter, Haft oder gar Tod – auch wenn sie nur ihrem Gewissen folgen. Das Regime braucht Strafexempel.

Auch wenn diejenigen, die ihrem Gewissen – dem „höheren Gut“ – folgen, darin Selbstbestätigung und Selbstrechtfertigung finden – für liebende Mütter führt das zu einem unerträglichen Dilemma.

Die eigene Machtlosigkeit – nicht Hilflosigkeit (vgl. Mt 7/7[6]) – zu akzeptieren im Angesicht von Verrat, Infamie, gezielter Ungerechtigkeit und Vernichtungswillen fördert aber auch das Bewusstsein, dass dadurch die Täter ans Licht kommen und sich enttarnen. Wahrheit zu erkennen, bedeutet oft Schock – Wahrheit zu ertragen, bringt einen oft an die bisherigen eigenen Grenzen von sanfter Hingabe – aber genau das bedeutet seelisches Wachstum: zur eigenen Wahrheit zu stehen.

Die Philosophin Hannah Arendt (1906 – 1975) schreibt, „Was bei den wenigen uns bekannten Menschen, die ihr ganzes Leben dem ,Gutes-Tun‘ gewidmet haben, wie Jesus von Nazareth oder der Heilige Franziskus von Assisi, am offenkundigsten ist, ist sicher nicht Sanftmut, sondern eine überfließende Kraft, vielleicht nicht des Charakters, sondern schon ihrer Natur.“[7]

Wenn man nun aber Charakter als biographisch verfestigtes Verhalten interpretieren mag, kann sich daraus eine neue Natur entwickeln – ein Gleichgewicht von Erkennen der Realität und Balance von Widerstandskraft und -wille und Ertragen des Zeitlaufs bis zu einer -auch symbolischen – Wandlung und Auferstehung.



Literatur

Arendt Hannah, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Piper Taschenbuchausgabe, München 2007/2114.

Matthias Grünewald, Der Isenheimer Altar. Eingeleitet und erläutert von Friedrich Piel. Deutsche Buch-Gemeinschaft C. A. Koch’s Verlag Nachf., Darmstadt 1960.

Luther Martin, Das Magnificat, verdeutscht und ausgelegt (1521). In: Martin Luther Werke II: Martin Luther Ausgewählte Schriften, herausgegeben von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling: Erneuerung von Frömmigkeit und Theologie, Insel Verlag, Frankfurt/ Main 1982.

Menzen Karl-Heinz, Heil-Kunst. Entwicklungsgeschichte der Kunsttherapie. Verlag Karl Alber, Freiburg München 2017.

Perner Rotraud A./ Perner Roman A., Komme was da wolle … Krisenkompetenz. Ein Beitrag zu Gewaltprävention, Resilienz und Salutogenese. edition roesner, Krems/ Donau 2020.

Perner Rotraud A.,  Lieben! Über das schönste Gefühl der Welt – Für Anfänger, Fortgeschrittene und Meister. Orac, Wien 2018.

Dorothy L. Sayers, Das größte Drama aller Zeiten. Theologischer Verlag Zürich, 1982.


Fußnoten

[1] „An gewöhnlichen Tagen des Jahres war der ,Wandelaltar‘ geschlossen“, schreibt Friedrich Piel (S. 7), „und der Gläubige sah sich der ,Kreuzigung‘ gegenüber. Diese sogenannten ,Alltagsseite‘ nimmt inhaltlich auf die besondere Stellung des Klosters als Spital Bezug. Antonius, Sebastian und die beiden Johannes wurden im Mittelalter bei Pest und anderen Seuchen angerufen.“ Deswegen sind diese christlichen Leitfiguren auch hier abgebildet.

[2] Karl-Heinz Menzen – Wikipedia

[3] K. – H. Menzen, Heil-Kunst, S. 21.

[4] Vgl. R. A. Perner, Komme was da wolle … Krisenkompetenz, S.  187.

[5] Mt 12,47: Jesu wahre Verwandte

46 Als er noch zu dem Volk redete, siehe, da standen seine Mutter und seine Brüder draußen, die wollten mit ihm reden.

47 Da sprach einer zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir reden.

48 Er antwortete aber und sprach zu dem, der es ihm ansagte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?

49 Und er streckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: Siehe da, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!

50 Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.

[6] Mt 7/7: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.

[7] H. Arendt, S. 134.

Diesmal traf es den belgischen Choreografen Jan Fabre: 18 Monate Haft auf Bewährung wegen sexueller Gewalt gegen Mitglieder seiner Tanzkompanie (Der Standard, 30.04. / 01.05.2022, Seite 34).

Vom Ex-Rektor des Salzburger Mozarteums und Expräsidenten der Musikhochschule München hat man dagegen schon lange nichts mehr gehört: Laut Salzburger Nachrichten vom 19.01.2022 (Regionalteil Seite 7) hätte der Musikprofessor seine Haftstrafe von zwei Jahren und neun Monaten bereits im Jänner 2020 antreten sollen, sich aber mit Wohnortwechsel und Strafaufschubanträgen wegen gesundheitlicher Gründe immer wieder der Justiz entzogen … dabei stammte seine Erstverurteilung bereits aus 2017, die nächste aus 2018 … Nun aber lägen mehrere Sachverständigengutachten vor, die volle Haftfähigkeit bestätigen.

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Der 65jährige Tory-Abgeordnete Neil Parish hat während einer Parlamentssitzung auf seinem Smartphone Pornos geschaut (Neil Parish tritt wegen Pornokonsums im Unterhaus zurück (faz.net)) – irrtümlich, weil er eigentlich Traktoren schauen wollte; offensichtlich war er an der parlamentarischen Arbeit desinteressiert – obwohl dazu ja auch die Beobachtung der anderen Abgeordneten und möglicher Reaktionschancen zählt. Zumindest wurde uns das in den Mandatare-Schulungen der 1970er Jahre so mitgeteilt: Aufpassen wie bei einem Fußball Match!

Nachdem Parish – der Name bedeutet laut Wikipedia Pfarre, Kirchspiel, Parochie! (Parish – Wikipedia) – zugeben musste, ein zweites Mal bewusst geschaut zu haben, bot sich für die Tageszeitung Kurier am 1. Mai Gelegenheit für die Schlagzeile „Porno am Handy folgt Polit-Rücktritt“ (Seite 10).

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