Herman Melvilles berühmter Roman „Moby Dick“ beginnt mit dem Satz des Ich-Erzählers „Nennt mich meinethalben Ismael“. Das macht die Kommunikation leichter: Er stellt sich vor.

In den Salzburger Nachrichten von Samstag, 21. Mai 2022, Seite 13, lese ich die Überschrift „Falsche Anrede soll sexuelle Belästigung sein“ und im Artikel, die Schulbehörde einer Mittelschule im US-Bundesstaat Wisconsin habe den Streit um die korrekte Bezeichnung eines oder einer nicht-binären Mitschüler:in als sexuelle Belästigung „eingestuft“. Daraus schließe ich, dass die weiterhin weibliche Anrede durch die Mitschüler in keinem wertschätzenden Ton erfolgt ist. Offensichtlich konnten oder wollten diese den vermutlich intersexuellen Kollegen nicht als ihresgleichen akzeptieren – oder hänseln.

Der Anwalt (vom Wisconsin Institute for Law and Liberty) der drei beschuldigten Burschen findet die Vorgehensweise der Behörde „völlig unangebracht“ und verlangt den Stopp der Untersuchungen; offensichtlich schließt er sich der Ansicht der Mitschüler an, dass niemand zu einer „korrekten“ Anrede gezwungen werden könne. Kein Zwang – OK, aber: Wer bestimmt, was korrekt ist?

Vor gut einem Jahr beklagte sich ein Kollege, Universitätslehrer, bei mir über radikalfeministische Hörerinnen, die ihn kritisiert hatten, weil er sie mit „Frau“ angesprochen hatte, denn er könne doch nicht wissen, welchem Geschlecht sich jemand zugehörig fühle. (An Kleidung oder Haartracht könne man es schon lange nicht mehr festmachen – zumindest nicht im „freien Westen“.) Er möge den angegebenen Vornamen benutzen.

Mir hat dieser Vorschlag – im Gegensatz zu ihm, der ihn überzogen fand – sehr gefallen, und ich bemühe mich seitdem auch um die angeregte Praxis.

Binäres Denken – also nur zwei Möglichkeiten gedanklich zuzulassen und daher alles in „entweder – oder“ einzuteilen – ist eine der Wurzeln von Gewalt: Automatisch folgt daraus die Bewertung von „richtig“ und „falsch“ und in weiterer Folge von Berechtigung zu Herrschaftsansprüchen. Beispielsweise des einen Geschlechts über das „andere“ (wie Simone de Beauvoirs Grundsatzbuch „Das andere Geschlecht“ listig eingedeutscht wurde – im Original „Le deuxieme Sexe“ bedeutete es eher „Das zweite Geschlecht“, wird darin ja genau diese Vorherrschaft in Frage gestellt).

In anderen Kulturen, in Indien, Pakistan etc. oder Südamerika, gibt es mehr als zwei Geschlechter (Hijra z. B. oder Berdache); gleichwürdig werden sie aber auch nicht wertgeschätzt. Und genau das ist in einer Zeit, die auf die Einhaltung der Menschenrechte pocht, der eigentliche Skandal: Dass sich Menschen immer noch berechtigt fühlen, andere wegen ihres So-Seins – nicht wegen ihres Verhaltens (wobei man prüfen muss, ob sie überhaupt Verhaltensalternativen besitzen!) – zu diskriminieren, unterdrücken, bestrafen oder gar zu vernichten.