Briefe gegen Gewalt

Halt! Gewalt!

Scham ist eine zentripetale Reaktion – man zieht sich quasi zusammen und in sein Inneres zurück (oder würde, wenn es ginge, gerne in den Boden versinken). Die – ebenso extreme, nämlich das Mittelmaß verfehlende – Gegenreaktion ist die Empörung: Man macht sich Luft, breitet sich aus und empor … und verliert oft den Boden unter den Füßen.

Oft folgt eines aufs andere – aber wenn das rechte Maß nicht verfehlt wird, denkt man darüber nach, weshalb man sich schämt, findet viele zusammenwirkende Auslöser, protestiert gegen die, bei denen Änderungen erreichbar scheinen (die vernünftige Art, sich Luft zu machen, anstatt bloß zu randalieren!) und arbeitet mit Disziplin und Geduld an Problemlösungen, wie schwer diese auch sein mögen. Klassisches Beispiel: chronische Krankheiten.

Viele schämen sich nicht nur ihrer eigenen Krankheiten – besonders, wenn sie das Äußere verändern – sondern auch ihrer Angehörigen. Scham ist dann eine innerpsychische Flucht ins Nirgendwo – und meist ausgelöst durch fremden Spott und / oder eigene Angst vor ernsthaft argumentierter übler Nachrede. Aktuell erlebt am Beispiel des ORF als Arbeitgeber. (Vormaliges Gegenbeispiel: ORF-Korrespondent Lorenz Gallmetzer hatte den Mut, ein Buch über seine Alkoholkrankheit zu schreiben. Hoffentlich hält er für die Zukunft durch! Es ist ihm zu wünschen.)

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Halt! Gewalt!

Von dem US-amerikanischen Psychologen Martin E. P. Seligman (* 1942) stammt der Begriff der „erlernten Hilflosigkeit“. Er bedeutet, sich selbst allein für die vermeintliche Unfähigkeit verantwortlich und sogar schuldig zu fühlen, die jeweilige oder gesamte Lebenssituation verbessern zu können.

Aus aktuellem Anlass formuliere ich jetzt eine geistige Gegenhaltung: Zu glauben, selbst in – aus welchen Gründen auch immer – geschwächtem Zustand „funktionieren“ zu können (bzw. zu müssen).

Da kann die Ärzteschaft noch so oft mahnen, man möge bei Fieber nicht an den Arbeitsplatz und womöglich die Kollegenschaft anstecken (abgesehen davon, dass die Fehlerwahrscheinlichkeit steigt). Ebenso solle man übermüdet (oder unter z. B. Muskeln oder psychisch „entspannenden“ Medikamenten) nicht mit dem Auto fahren – denn dieser Zustand entspräche einer Alkoholisierung von mindestens 1,0 Promille. Und wenn im Beipackzettel eines Medikaments davor gewarnt würde, keine Maschinen zu bedienen, gilt das genauso.

Aber abgesehen davon, dass kaum jemand die Beipackzettel liest – sie werden ja auch Leser-unfreundlich in winziger Schrift gedruckt! – glauben die „Braven“, die Disziplinierten, Chef-Folgsamen, sie müssten immer ihre Pflichten erfüllen. Während die „Schlimmen“, die sich trauen, auf sich selbst und andere aufzupassen, sich in solchen Zuständen „aus dem Verkehr ziehen“. Ersteres geht manchmal ordentlich schief.

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Halt! Gewalt!

In ihrem Buch „Populismus für Anfänger – Anleitung zur Volksverführung“ (Verlag Westend, Frankfurt/Main 2017) beschreiben der langjährige Linzer Volkswirtschaftsprofessor und NLP-Lehrtrainer Walter Ötsch und die Politikwissenschaftlerin und Falter-Chefreporterin Nina Horaczek am Beispiel vieler nationaler wie auch internationaler „rechter“ Politiker:innen, wie mit subtilen Skandalisierungen die Bevölkerung in Richtung Aggression gegen deren Konkurrenten – sprachlich als „Mitbewerber“ verharmlost – um politischen Einfluss und Macht emotionalisiert wird.

Die erste Anleitung benennt das Autorenduo als „Erfinden Sie sich Ihre eigene Welt“ mit sich selbst – den „Wir“ – als den einzigen Guten und Richtigen und den „Anderen“ als den Bösen und immerzu Unrichtigen. Punkt 5 in der 18 Punkte umfassenden „Betriebsanleitung“ lautet dabei: „Gestehen Sie den ANDEREN nicht einen Funken Moral zu.“ (S. 227)

Diesen Aufbau von Feindbildern kann man immer wieder in der Geschichte (auch der Religionsgeschichte!) wahrnehmen; er ist Zeichen eines „binären Weltbilds“ sprich „Schwarz-Weiß-Denkens“ und wird zumeist als quasi unvermeidbare Naturgegebenheit verinnerlicht.

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Halt! Gewalt!

Wenn man an den Beginn der Arbeiterbewegung zurückdenkt, war der gemeinsame Marsch die wohl wichtigste Demonstration des „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“ (Georg Herwegh) mit dem Beweis, wie viele Arme (im Doppelsinn des Wortes!) dahinter stünden. Ein Streik in einem Betrieb konnte das nicht.

Seit damals ist mehr als ein Jahrhundert vergangen und viele Demonstrationsmöglichkeiten auf und in vielen Orten sind dazu gekommen:

  • Einerseits die vielen öffentlichen Medien – die vor allem dort unverzichtbar sind, wo undemokratische Staaten jede gegensätzliche Meinungsäußerung verbieten. Ich habe als gerade-noch-nicht-Ehefrau eines ORF-Journalisten (geheiratet haben wir erst im Oktober) das Abwürgen des Prager Frühlings im August 1968 hautnah miterlebt, und all die Bemühungen seiner Freunde, Nachrichten aus der so plötzlich zur Stummheit gezwungenen Medienwelt in den „freien Westen“ zu schmuggeln.
  • Andererseits die elektronischen Medien, mittels derer jedermensch sein oder ihr eigenes Filmteam darstellen und vermarkten kann – in einer Demokratie.

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Halt! Gewalt!

Der  hochangesehene Gerichtspsychiater Reinhard Haller schreibt in seinem aktualisierten Buch „Das Böse – Die Psychologie der menschlichen Destruktivität“ (ecowin 2021): „Schließlich setzt die Verwirklichung des Bösen die Missachtung des ,Moralinstinkts‘ voraus.“, und  erklärt dazu, dass Moralinstinkt „die Einhaltung bestimmter sozialer Regeln, die für ein Zusammenleben von Menschen unabdingbar sind, ferner die Achtung der Rechte des anderen und die Eindämmung eigener egoistischer Ansprüche, vor allem aber die Verhinderung der Zerstörung menschlichen Lebens“ meine. Diese zentralen Maßstäbe der Moral sind global vergleichbar und keine Frage der jeweiligen Kultur (S. 216). Und dann mahnt er, es gehöre zu der Dynamik einer Gruppe, dass „Meinungen primitivisiert, Emotionen hochgeschaukelt und destruktive Kräfte in elementarer Form freigesetzt werden“.

Was Haller nicht schreibt, was aber viele entsetzte Menschen bei ihren Nächsten erleben, ist das, was ich den „Sog der virtuellen Masse“ nenne: Was sich in einer realen Gruppe durch „Ansteckung“ multipliziert, kann auch den einzelnen Fernsehsendungen sehenden, ja sogar „nur“ lesenden Menschen in die vermittelte „Stimmung“ versetzen (die, dank der bildgebenden Verfahren in der Gehirnforschung, naturwissenschaftlich nachweisbare Bildung von „Spiegelnervenzellen“) – außer er oder sie verfügt über eine präzise Selbstbeobachtung, merkt die emotionale Überflutung durch die Fremdenergie und beginnt mittels Vernunft diesen Verlauf zu kontrollieren.

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Halt! Gewalt!

Stefanie Sargnagel recte Sprengnagel hat gestern ihre erste „Hetzrede“ gehalten, schreibt sie stolz auf Facebook, und sie sei aufgeregt gewesen.

Ja, Aggression erregt – und für manche Leute ist sie Ersatz für sexuelle Erregung oder ohnedies auch beides, weil erstere die Gliedaufrichtung fördern kann, wenn es an Liebe mangelt, und dazu dienen Feindbilder. Frauen beispielsweise – in Erinnerung an die schimpfende / verbietende Mutter der frühen Kindheit, wiederbelebt in den Frauen, die Gehorsam verweigern. Oder alle, die anders sind, besonders wenn sie besser sind – in Erinnerung an die Schulzeit und schimpfende / verbietende Lehrkräfte. Oder erfolgreicher. Oder mächtiger … auch wenn das nur Fantasien sind.

Joseph Goebbels hat gehetzt, Herbert Kickl tut es und jetzt Stefanie Sargnagel. Zweimal von rechts, einmal von links. Wie sich die Bilder gleichen! (Wobei ich mir bei Sargnagel nicht sicher bin, ob ihr Text nicht als Parodie verstanden sein will …?)

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Halt! Gewalt!

In der Zeit im Bild um 13 Uhr formulierte Jörg Leichtfried seine Stellungnahme zur Regierungsumbildung der ÖVP, „Der Auftritt des Herrn Nehammer war nicht dazu geeignet, Vertrauen wieder herzustellen“ und wiederholte sich sogar nochmals gleichlautend. (Typisches Politsprechtraining: Kein Inhalt, nur ein Slogan, aber den wiederholt – weil alles andere könnte ja redaktionell gekürzt werden! Hab ich seinerzeit als Mandatarin auch so eingetrichtert bekommen.)

In der Juristerei unterscheidet man Hol- und Bringschulden.

Vertrauen ist eine Bringschuld, keine Holschuld, da irrt Herr Leichtfried – oder er will sein Publikum bewusst manipulieren: Vertrauen „bringt“ man entgegen – oder eben nicht. Misstrauisch darf man sein.

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Halt! Gewalt!

Zuerst sagte Susanne Riess, „Unterm Haider hätt’s das nicht gegeben“ zum Verhalten des „obersten Impftroll Österreichs“ (Copyright Hans Rauscher Kickl und Cluster – Hans Rauscher – derStandard.at › Diskurs) Herbert Kickl, und tags darauf taucht Haiders Permanentsager von der „Jagdgesellschaft“ auf – damals hinter der FPÖ her (heute nicht?) und aktuell hinter Altkanzler Kurz, und sofort finden sich Abwiegler, die diese Jagd in Abrede stellen.

Ich tue das nicht, denn ich war mehrfach auch Ziel organisierter medialer Hetzjagden auf mich. Beim ersten Mal schockiert, später, meiner Naivität verlustig gegangen, beinahe routiniert in Krisenkommunikation – weh getan hat es immer, vor allem auch meinen Söhnen. Gottlob erwiesen sich mir kaum Bekannte als Freunde, die mir Beistand gaben, wie Kurt Bergmann, der mir damals anvertraute, „Die Zeitung von heute ist das Klopapier von morgen!“ Nunmehr  weiß ich: Man muss immer mit „psychologischer Kriegsführung“ seiner Konkurrent:innen rechnen – nicht nur in der Politik (deswegen habe ich nach 15 Jahren politischer Mandatstreue sofort abgesagt, als ich 1994 flüchtig als Gesundheitsministerin angefragt war), sondern ebenso, wenn es um Aufträge oder Auszeichnungen geht. Der aus Liebe in Wien hängen gebliebene international hoch angesehene Pädagoge Frederick Mayer, einer meiner Mentoren, sagte immer: „Der Neid ist die österreichische Krankheit.“ Wenn man das berücksichtigt, ist es unklug, seine (politischen) Werbestrategien auf eine einzige Person auszurichten, denn je mehr diese mediale Aufmerksamkeit bekommt, desto mehr wurmt das die „Mitbewerber“. (Da hilft dann auch kein Pferde-Entwurmungsmittel – Scherz!)

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Halt! Gewalt!

In den letzten Tagen hörte ich von etlichen Verleger:innen die Klage, sie könnten Bücher weder nach- noch neu-drucken lassen, weil die Druckereien keine Papierreserven mehr hätten. Gleichzeitig flattern täglich zahlreiche Postwürfe von Lebensmittel-Großhändlern, OK, aber auch Möbelhäusern, Baumärkten und natürlich Spendensammlern ins Haus, und ich frage mich: Dafür scheint also genug Papier dazusein – und das in der Zeit des Lockdowns, in dem man ohnedies nur bedingt außer Haus darf. Und wo viele schon seit langem über Reizüberflutung klagen …

Und meine Buchhändlerkolleg:innen – ja, ich habe nicht nur einen eigenen Verlag, sondern auch einen Buchhandelsgewerbeschein und betreue meine Stammkundenschaft selbst – appellieren, man möge doch bei ihnen bestellen und nicht bei Amazon, man sende ebenso zu oder liefere „übers Fenster“ aus, womit man noch mehr die Umwelt schonen könne.

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Halt! Gewalt!

Oft genügt ein neues Wort, um bislang beschwiegene Phänomene ins Bewusstsein zu heben und damit einer „Bearbeitung“ zuzuführen. (Deswegen habe ich in meinem letzten Brief Nr. 91 passende Neuwortschöpfungen begrüßt.)

Manchmal setzen sich aber gezielt beworbene Worte im allgemeinen Sprachgebrauch durch, die semantisch falsch sind, weil es eben noch keine besseren, „treff-sicheren“, gibt. Aus diesem Blickwinkel kritisiere ich das Wort bzw. den Begriff „Femizid“, denn die Tötung von widersetzlichen Frauen geschieht nicht – so der politische Sprachgebrauch – „weil sie Frauen sind“, sondern weil sie sich zu widersetzen wagen. Deswegen spreche ich von „Hinrichtung“. (Ein ähnlich brutaler Umgang führt auch zu Gewaltattacken bei widersetzlichen Söhnen, aber diese sind meist kampftüchtiger, weil jünger, kräftiger oder auch noch nicht so alkoholbeschädigt wie ihre Väter, daher ist der Kampfausgang offen.)

Eine andere hinterfragenswürdige Formulierung ist die von der „toxischen Männlichkeit“. Toxisch bedeutet „giftig“ (für die Zukunftsfolgen) oder „durch Gift verursacht“ (für die Vergangenheitsursachen). Beide Blickrichtungen bieten nur vage wie auch relative, nicht absolut zutreffende Informationen: Schon Paracelsus wusste, „Die Dosis macht das Gift“ – und manche Menschen sind sogar immun oder zumindest resilient auch für hohe Dosen, auch wieder für beide Zeitrichtungen gemeint.

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