Fortsetzung von Brief Nr. 09

Ein Abonnent meiner „Briefe gegen Gewalt“ schrieb mir, ich möge doch für Nichtjuristen erklären, was ich mit dem letzten Absatz meines Briefes Nr. 9 gemeint habe.

Hier dieser letzte Absatz:

Ich plädiere für eine gesetzliche Möglichkeit von Patenschaften: Wer will, dass Kinder oder Ältere nicht abgeschoben werden, soll für die Person Pate bzw. Patin werden können (und dabei Unterstützung bekommen) – auf bestimmbare Zeiten (wie zwecks Schul- oder Berufsausbildung und mit vertraglichen „Dankzeiten“ der Rückerstattung analog Firmenstipendien), allein, ohne Familienband. Jugendämter trennen ja auch, wenn das Kindeswohl als gefährdet deuten, und schieben emotionale Bindungen mit zweifelhaften Psychodiagnosen weg, wie ich aus meiner Beratungstätigkeit nur zu gut weiß.

 Also: Als Juristin weiß ich, dass man alles in Gesetzesform kleiden kann, egal wie inakzeptabel es vielen erscheint, und als Theologin ordne ich dies dem binären Denken (d. h. dem Sündenfall aus der Einheit „in Gott“, wie auch immer man diesen Begriff interpretieren will – wir sollen uns ja kein Bild machen! 2. Mose 20, 4 – in die zweigeteilte Welt mit „gut“ und „böse“) zu, und als dem radikalen Konstruktivismus verpflichtete Psychotherapeutin will ich aufzeigen, wie wir nach eigenem Vorteildenken eben die Kategorien von Gut und Böse erschaffen – so wie schon Blaise Pascal darauf hingewiesen hat, dass der Gipfel der Pyrenäen entscheidet, auf welcher Seite man als Irrender (Verbrecher) gilt oder als Weiser (Befreiungsheld). Nur: Jeder Gipfel hat nicht nur zwei Seiten – er hat mehr, und jede bietet andere Aspekte – jeweils ein bisschen verschobene („ver-rückte“).

Zum aktuellen Fall der Abschiebung 12jährigen Tina in ihr sicheres Heimatland: Sie wurde laut Medienberichten mit Mutter und Schwester abgeschoben, über den Vater las ich in den mir vorliegenden Meldungen nichts. Würde man also Kindeswohl weiter definieren, als nur in enger Verbindung mit Mutter-Nähe – was ja laufend geschieht, wenn das Jugendamt Kinder „zum Besseren“ in Pflegefamilien oder Heimen unterbringt – könnte auch diese Alternative angedacht werden – besonders auch dann, wenn man in Erwägung zieht, dass 12jährige bei Scheidungen zumindest „gehört“ werden müssen, bei welchem Elternteil oder allenfalls Verwandten sie in Zukunft leben wollen. (Ich erinnere mich an einen Fall in den 1990er Jahren, bei dem die Kinder in der Ehewohnung verblieben und halbwöchentlich mal von dem einen, dann dem anderen Elternteil betreut wurden.)

Mit diesen beiden Aspekten verbinde ich die Erfahrung meines Vaters, der mit seiner jüngeren Schwester während des Ersten Weltkriegs als „Wiener barn“ (Wiener Kind, eine „Verschickungsaktion“) einige Zeit in Dänemark in die Familie eines „Paten“ – so nenne ich den Kaufhauskönig in Odense, der beide aufgenommen hatte – eingegliedert war und die Schule besuchte (und mehr lernte, als damals in Wien möglich war). Ich durfte mit meinen Eltern in den Ferien 1957 zwei Monate bei ihm auf Besuch sein. Entsprechend meiner Erziehung habe ich in den 1990er Jahren auch nach Maßgabe meiner Möglichkeiten Flüchtlinge aufgenommen – und ich kenne viele, die ähnlich gehandelt haben und handeln, und zwar nicht nur evangelische PfarrerInnen.

Daraus konstruiere ich eine „Verschiebung“ in größere Distanz aus der Herkunftsfamilie (family of blood) hin zu einer Wahlfamilie (family of choice), wie es sie unkonventionell ja ohnedies vielfach gibt, wie es in früheren Zeiten auch üblich war und schlage vor, denjenigen, die die von Abschiebung bedrohten Kinder und Jugendlichen wirklich kennen – und nicht nur sentimental phantasieren – eine Möglichkeit zu schaffen, Patenschaften auf Zeit – Schulzeit, Ausbildungszeit – zu übernehmen; die staatlichen Beihilfen dafür gibt es ja ohnedies.

Was es bisher nicht gibt, ist die Möglichkeit solch einer selbstbestimmten Wahl – an Stelle einer autoritativen Fremdentscheidung. Dass dies eine ethische Entscheidung ist – nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Autorität Staat – ist mir klar. Aber so entsteht Ethik.