Ich wurde aufgefordert, ich solle doch zum Eingeständnis der „Opferanwältin“ Waltraud Klasnic, sie hätte ihren Söhnen „flotte Detschn“ und der Behauptung, „es war ja nicht Gewalt“ gegeben, Stellung beziehen (https://derstandard.at/2000100847459/Verwunderung-ueber-flotte-Detschn-von-Opferschuetzerin-Klasnic). Das haben schon viele derjenigen unentwegt mutigen Österreicher und Österreicherinnen getan, die sich gegen Gewalt in den „sakrosankten“ Bereichen unseres Landes stark machen: Der Kirche, dem Sport — nun ist auch die Ballettakademie der Staatsoper dran.

Es gibt aber natürlich auch diejenigen, die ein sehr eingeschränktes Verständnis von Gewalt haben. Wenn ich als Gastlehrkraft in Schulen zum Thema Gewalt sprach, begann ich immer mit der Frage: „Woran denkt Ihr beim Wort Gewalt?“, und dann folgten fast immer Vorstellungen von Schusswaffeneinsatz oder Massen-Überfällen. Zumindest war das aussprechbar. Andere – näher liegende – Formen von Gewalt, wie die seitens der Eltern, Lehrkräfte oder anderer „Elternersatzpersonen“ fielen offenbar der innerseelischen „Zensur“ zum Opfer. Mit diesem Wort beschreibt man in der Tiefenpsychologie das Phänomen, dass bestimmte Erinnerungen verharmlost werden, verblassen oder gleich ganz verschwinden, sofern sie für das Selbstbild unerträglich wären. Dieser Mechanismus ähnelt den schwarzen Balken, mit denen in prüden Gesellschaften Ansichten von Genitalien verhindert werden sollen, oder der Methode kleiner Kinder, den Kopf in Mutters Gewand zu verbergen und zu wähnen, man wäre dann nicht da. Alles nur Selbstschutztechniken gegen Scham, Strafe und – Verantwortung.

Waltraud Klasnic ist Geburtsjahrgang 1944 – so wie ich. Damals galt noch das „Züchtigungsrecht“ der Eltern, und obwohl es in der – Gesetzessprache! – „elterlichen Gewalt“ beheimatet war, wurde es nicht als Gewalt erkannt – es lag ja auch ein „schwarzer Balken“ davor, nämlich vor der Erkenntnis der Wahrheit: Dass die Eltern, selbst unbeherrscht, primär beherrschen wollen – mit Angstmache, Einschüchterung, Strafe. Die ärgste davon ist der Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft.

Ich kann mich sehr genau erinnern, wie mich meine Mutter aus der Wohnung in Laa an der Thaya ausgesperrt hat, weil ich Karottenbrei nicht essen wollte (konnte). Heute weiß ich, dass ich auf Karotten in größerer Menge allergisch reagiere. Damals stellte sie, gelernte Volksschullehrerin, mir den Teller – er war aus blauem Email, ich sehe ihn noch deutlich vor meine geistigen Auge – ohne Besteck vor die Tür, wie einem Hund. Ich dürfe erst wieder hinein, wenn ich aufgegessen hätte.  Ich weiß nicht, wieviel Stunden ich vor der Tür geschluchzt habe, ich war noch nicht im Schulalter, hatte keine Uhr und kannte sie auch noch nicht. Erst als eine Nachbarin von der Arbeit heimkam, entsetzt war, bei uns anläutete und ein „gutes Wort für mich einlegte“, durfte ich trotz Essensverweigerung wieder in die Wohnung. Als ich Jahrzehnte später meiner Mutter diese Grausamkeit vorhielt, stritt sie alles ab – klassische Verleugnung (nicht Lüge! die wäre bewusst) im Sinne von „Das kann doch nicht wahr gewesen sein“.

Heute kenne ich ähnliche Erlebnisse von unzähligen meiner Klientinnen und Klienten, die darunter leiden, dass ihr langwährendes Leiden nicht wahr und nicht ernst genommen wird. Dass Waltraud Klasnic die Wahrheit zugegeben hat, ehrt sie; dass sie die damals – und leider auch heute noch – „gewöhnliche“, weil übliche Gewalt verharmlost hat, leider nicht, und schon gar nicht, dass sie sich erst im Nachhinein, als massiver Protest die Folge war, von ihrem seinerzeitigen Verhalten distanziert hat. Und wenn sie sagt, ihre Kinder würden heute darüber lachen, so sehe ich auch darin Verleugnung – vielleicht aus altem Widerstand und Selbstbehauptung, vielleicht aber auch aus Schonung für allzu menschliche Fehlbarkeit.

Aus Schaden wird man klug, weiß der Volksmund, und so, sage ich, beginnt der erste Schritt zur Verbesserung.