Es war nicht 1987, also vor 35 Jahren, wie ich irrtümlich annahm, sondern am 26. April 1986 um 1 h 23, als die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl die westliche Welt in Schrecken versetzte (Nuklearkatastrophe von Tschernobyl – Wikipedia).

Jedes Mal am 1. Mai muss ich daran denken. Der „Tag der Arbeit“ war in diesem Jahr ein Dienstag, und mein Ehemann, Pressereferent des damaligen Umweltstadtrats von Wien, wollte mich, zu dieser Zeit Favoritner SP-Bezirksrätin und Landtagskandidatin – ohne Erklärung, daher für mich inakzeptabel – partout davon abhalten, wie gewohnt mit den Genoss:innen gemeinsam zum Rathaus zu marschieren.

Ich weiß noch genau, dass es damals nieselte und irgendwie komisch roch, denn ich zog meinen roten Lackleder-Regenmantel an – und den habe ich danach nie wieder getragen. Wegen des Geruchs. Erst viel später erzählte mir mein Ehemann, dass sein Chef – auch Favoritner Parteivorsitzender – schon vor dem Wochenende informiert war, dass die radioaktive Wolke vom Wind nach Westen geblasen werde. Offenbar war ihm das als undenklich berichtet worden – oder er wollte Panik vermeiden, weswegen er den Mai-Aufmarsch nicht abgesagt hatte. In meinem Freundeskreis dachte niemand an eine biologische Gefahr weitab der Ukraine – und die besorgten Grünbewegten wurden eher nicht ernst genommen.

Ich absolvierte damals eine Fortbildung in Jungianischer Analytischer Psychologie, und mein Analytiker – im Zivilberuf Tierarzt in Diensten der Niederösterreichischen Landesregierung – erzählte mir gut einen Monat später, dass viele freilaufende Katzen, die sich ja bekanntlich andauernd das Fell lecken, an jenen Tagen „eingegangen“ wären. Als ich das daheim erzählte, rückte mein Ehemann erstmals mit seinen Kenntnissen heraus. Wie froh war ich dann, dass ich wenigstens nicht meine Söhne (knapp 13 und 15) zum Mitmarschieren „motiviert“, d. h. überredet (auch eine Form von Gewalt!) hatte. (Das war übrigens mit ein Grund, aber nicht der einzige, weswegen ich 1987 – nach drei Funktionsperioden – nicht mehr und aktuell für den Wiener Landtag kandidierte.)

Seit damals machen sich wieder viele Menschen in Österreich Sorgen wegen möglicher Reaktorunfälle, immerhin befinden sich etliche Kernkraftwerke in engster Nähe zu unseren Grenzen – und jetzt besonders, wo in der Ukraine ein Vernichtungs-Krieg ohne Rücksicht und Verantwortung tobt. Sie machen sich vor allem auch deshalb Sorgen, weil seit der Pandemie Personen, die ihre Verunsicherung, ihr Informationsbedürfnis und ihr Missfallen an zu viel Schönfärberei und Zuversicht „ungefiltert“ ausdrücken, die Vernunft abgesprochen wird.

Jede Vernunftreaktion kann aber nur einen Anfang nehmen, wenn auch Kritik gestattet wird – sonst ist sie nur eine andere Form von Unterwerfung – oder Ignoranz, zumindest der Person, die mitzudenken wagt und zu anderen Ergebnissen kommt (und dies vielleicht auch nur vorübergehend).

Im Johannesevangelium (8,32) heißt es: „… und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen“ – und dieses Erkennen ist ein ganzheitlicher Prozess im Pendeln zwischen Sorge und Angst einerseits, sowie Selbstvertrauen und Hoffnung andererseits. Wir kennen dies meist von bedrohlichen Krankheitsdiagnosen, daher logischerweise auch von solchen für die Gesellschaft oder die ganze Welt – und Wahrheit zu ertragen braucht je nach Routine mehr oder weniger Zeit (und meist auch Beistand).