Da berichtete doch Conrad Seidl am 29. November 2022 im Standard (Seite 32) unter dem Titel „Demokratie braucht Streit“ und „Untertitel „Der Ruf nach starker Führung hat dennoch seine Berechtigung“ – die beide möglicherweise nicht von ihm stammen? – dass laut dem Demokratiemonitor des Sora-Instituts jeder neunte Befragte meinte, es sollte einen starken Führer geben und der bräuchte sich dann nicht um Parlament und Wahlen zu kümmern und weitere 15 Prozent hielten dies für „ziemlich richtig“. Gleichzeitig sagten 87 Prozent, dass Demokratie die beste Staatsform sei. (Dass jeder 50. Befragte dies ablehnte, will ich nicht gelten lassen – es fehlt im Artikel nämlich die Angabe der Zahl der Befragten.)

Seidl meint, dieser Widerspruch basiere auf dem Eindruck, dass in der Politik nur gestritten werde – und er resümiert, Demokratie brauche eben diesen Streit, „ein Ringen um die besten Lösungen“. Genau deswegen stört mich das Wort bzw. der Begriff „Streit“: Streit ist eben kein Bemühen um eine Problemlösung – er besteht im energetischen nicht nur verbalen – denken wir an Mimik und Gestik und oft noch mehr – Krafteinsatz, um sich durchzusetzen. Es geht darum, Sieger zu sein – immer mit Ausblick auf die nächsten Wahlen.

Ich würde daher statt „Streit“ den emotionsarmen Begriff „Kontroverse“ vorschlagen und auch nicht „braucht“ sagen, sondern Politik „beruht auf“ und sogar noch „logischerweise“ dazufügen.

Mit der Wortwahl wird unser Denken bestimmt – und möglicherweise subtil manipuliert. Ich nenne dies mentale Gewalt, denken wir nur an das seit Ende des vorigen Jahrhunderts auch bei uns üblich gewordene permanente Dirty Campaigning! (Das Protokoll: Die „Dirty Campaigning“-Seiten rekonstruiert – Addendum)

Welche geistigen Bilder tauchen denn auf, wenn wir an Streit denken? Z. B. den der Eltern? Oder unter Nachbarn? In Lokalen, auf der Straße?

Conrad Seidl lenkt den Blick der Leserschaft auf starke Männer und konkret auf Figl und Raab, Klaus und Kreisky. Die erstgenannten drei habe ich – Jahrgang 1944 und daher wesentlich älter als Conrad Seidl – nur aus den Zeitungsberichten der 1950er Jahre „erlebt“, aber Bruno Kreisky live: Ich war eine der „1.400 Expert:innen“, die am Reform- und späteren Parteiprogramm 1978 mitarbeiten durften (Was blieb, was bleibt von Bruno Kreisky – NÖN.at (noen.at)).  Damals äußerte ich – noch total schüchtern – im Haus der Begegnung in der Gatterburggasse eine Idee (welche, weiß ich nicht mehr), und Kreisky – weit vorne am „Kopf“ des Saales sitzend – sagte zu mir kleiner unbekannter Funktionärin: „Das ist eine sehr gute Anregung, Genossin, bitte formuliere das aus, wir nehmen das auf!“ So geht Motivation.

Es war Kreiskys Offenheit für Ideen – auch Unbekannter, abgesehen von seinen eigenen – jedoch nicht von „professionellen“ Coaches und Spindoktoren, wie es ab 1997 üblich wurde, die nicht in der politischen Arbeit „sozialisiert“ (im Doppelsinn des Wortes) wurden, sondern an Hochschulen oder in PR-Agenturen.

„Geführt“ haben „starke Ideen“ (nicht Menschen – „kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun“! und schon gar kein „Führer“!) – und umgesetzt wurden sie in Kooperation „bottom up“.