Aktuell ist das Wort „Streit“ wohl das meistverwendete in der Medienberichterstattung der letzten Woche. Ich frage daher: Welches geistige Bild entsteht, wenn wir an Streitende denken? Wie sehen deren Gesichter aus? Wie deren Körperhaltungen? Wie hören sich deren Stimmen an? Und welche Energie strahlen sie aus?

Und weiter: Von welchen Vorbildern stammen diese Gedächtnisspuren? Vom kindlichen Geschwisterstreit um Spielzeug? (Später dann um Erbschaften und „Zuwendungen auf den Todesfall“.)

Von elterlichen Kämpfen um Erziehungsstile, Geld oder die jeweilige Schwiegerfamilie? Nachbarschaft? Film und Fernsehen?

In der systemischen Psychotherapie gibt es eine „Methode“ namens „Differenzieren“: Man überprüft, ob eine Wortwahl tatsächlich der Realität entspricht – oder ob es sich um eine Behübschung, Verharmlosung oder umgekehrt Dämonisierung oder Dramatisierung handelt. Das Wort „Streit“ ist meist solch eine mediale Dramatisierung. Mein verstorbener Ehemann, von Beruf Journalist, war ein Meister in solchen sprachlichen „Redimensionierungen“ von Tatsachen: Er formulierte in Schlagzeilen. Wenn ich ihn darauf hinwies, er möge bitte nicht dramatisieren, replizierte er meist: „Sonst hörst du mir ja nicht zu!“

Genau darum geht es vielen Medienmachern (bewusst männliche Form): Aufmerksamkeit zu erregen und damit der Konkurrenz voraus zu sein. Nur: Glauben sie – und wir Leser:innen – wirklich, dass z. B. unsere Regierungsmitglieder einander anschreien, stoßen, treten oder mit den Fäusten aufeinander losgehen?

Es wird derzeit auch andauernd von „Spaltung“ gesprochen. Ja, das könnte eine gefährliche Zukunftsvision sein – aber es liegt an uns allen, ob wir uns von diesem Wort „anstecken“, d. h. manipulieren lassen.

Wenn wir nach anderen Worten suchen, um das Geschehen realitätsgemäß zu beschreiben, drängt sich „Konflikt“ auf – aber das Wort ist auch nicht zutreffend, denn das setzt eine Beziehung voraus, und Demonstranten haben wohl nicht einmal eine zu denen, die sie aufgefordert haben, protestierend auf die Straße zu gehen. Oder ins Internet.

Ich schlage das Wort „Differenzen“ vor. „Unterschiedliche Ansichten“. „Kritische Bedenken“.
Und ich ersetze das Wort „Streitkultur“ durch „Kritikkultur“.

So geht Frieden!