Kaum hatte ich gestern meinen Abendvortrag – Thema „Mut zur Gesundheit“ – begonnen, als mich ein älterer Herr (vermutlich jünger als ich) mit den Worten unterbrach: „Man versteht nichts!“

Dieser Satz kann inhaltlich oder formal gedeutet werden: Unter Verzicht auf die Formulierung „man“ – die ja die Gesamtheit der Anwesenden mit einschließt – kann das „Ich verstehe nichts vom Inhalt“ oder „Ich verstehe nichts, weil ich hörbehindert bin“ heißen.

Ich jedenfalls habe den Herren freundlich aufgefordert, doch einen der leeren Plätze in der ersten Reihe in Besitz zu nehmen, falls er schwerhörig sei. Sofort protestierte der Senior „Ich bin nicht schwerhörig!“ Das hatte ich ja auch nicht behauptet – sondern genau deswegen die Möglichkeitsform verwendet. (Außerdem stellt Schwerhörigkeit für mich keinen Defekt dar – wir alle hören oder sehen unterschiedlich gut, vom Riechen und Schmecken ganz zu schweigen, und dass verminderte Körperempfindlichkeit bei Berührungen vielfach eine Folge von Gewalterlebnissen ist, sollte sich auch schon herumgesprochen haben … Ich selbst höre auch schon nicht mehr so gut wie vor noch fünf Jahren und muss öfters nachfragen – und das finde ich auch richtig: Wir sollten nicht verschämt schweigen, wenn es Verbesserungsbedarf gibt!)

Der ältere Herr wollte aber unbedingt, dass ich lauter sprechen solle – und das habe ich verweigert. Zuerst freundlich und dann immer bestimmter – denn er gab nicht nach, sondern wollte unbedingt seinen Willen durchsetzen – und das, obwohl bereits die Veranstalterin zur Technikanlage geeilt war um die Lautübertragung zu verstärken (ich sprach ja ohnedies mittels Mikrofon).

Die Problematik dieser subtilen Form von Sprachgewalt um die eigenen (Macht-)Bedürfnisse durchzusetzen, erblicke ich darin, sich mit dem Wort „man“ absolut zu setzen: „Absolut setzen“ ist das Gegenteil einer Aussage, die auf sich selbst als Einzelperson Bezug nimmt. Als ich wie viele andere Kolleginnen in der jungen Frauenbewegung der 1970er Jahre die ersten Rhetorik-Schulungen besuchte, wurden wir immer wieder aufgefordert, uns nicht hinter dem „bescheidenen“ „man“ zu verstecken, sondern selbstbewusst „ich“ zu sagen. Das ist die eine Seite dieser „Medaille“. Die andere besteht allerdings darin, mit dem Wort „man“ (oder, wie heute oft, zu „frau“ gewechselt oder zu „manfrau“, wie es der deutsche Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch gerne tut) den Eindruck zu erwecken, alle wären einer Meinung – wobei im Wort „Meinung“ bereits ausgedrückt wird, dass es sich dabei „nur“ um „meine“ Ansicht handelt.

Die weltberühmte deutsch-amerikanische Psychotherapeutin und Erfinderin der „Themenzentrierten Interaktion“ (TZI) Ruth Cohn (1912–2010) hat in ihren legendären „Gesprächsregeln“ für eine gelungene Kommunikation  festgelegt: „Sage nicht man, wenn Du ,Ich‘ sagen kannst.“

Aber auch da tritt dieser Zwiespalt auf: Selbst wenn die redende Person so fair sein will, ihre eigene Sicht der Dinge als nur solche zu betonen, kann sie nicht verhindern, dass übelwollende Gegner sie als massiv oder brutal empfinden – meist um sie zu verunsichern oder zu verunglimpfen, Politiker_innen kennen das! – oder mit der augenblicklich sehr modernen „Laiendiagnose“ „narzisstisch“ runter zu machen, um sich selbst zu erhöhen.