Kunst besteht ja nicht nur aus der geistigen Konzeption eines Malers, Dichters oder Komponisten, sondern auch aus all dem, was Interpreten daraus weiter entwickeln (Kritiker mitgemeint – so bin ich vor allem auch deswegen Abonnentin des Standard, weil Ronald Pohl Kunstkritiken von höchstem künstlerischen Sprachniveau verfasst). Je mehr Kunstformen sich zusammenfinden, desto mehr spricht man von einem Gesamtkunstwerk – und so etwas zu kreieren ist vermutlich Anliegen vieler, die für Festspiele inszenieren – nämlich ganz neue, „revolutionäre“ Ausdrucksformen zu gestalten. (Einen ähnlichen Anspruch orte ich auch bei mir, wenn ich versuche, meine Publizistik nicht in der üblichen europäischen Wissenschaftssprache zu verfassen, sondern als „Wissenschaftspoesie“, in der auch die Sprachschöpfungen von Psychoanalyse und Homiletik Platz greifen dürfen.)

Manchmal frage ich mich allerdings, mit welchem Ziel manche Regisseure bestimmte Orte anders umrahmen, als es der inhaltlichen Botschaft des Werkes entspricht. Konkret: Warum finden sich heuer sowohl bei „Rigoletto“ in Bregenz wie auch im „Tannhäuser“ in Bayreuth Zirkusmotive? Wollen sie damit den Unernst der menschlichen Fehl-Verhaltensweisen aufzeigen? Das wäre meiner Ansicht nach die falsche Richtung. Denn in Zeiten von #MeToo ist die krankhafte Sexbesessenheit des „Herzogs von Mantua“ (als Sammelbegriff für etliche seinerzeitige Adelsherrscher) hochaktuell – daher sollte diese Symbolgestalt ebenso im Nadelstreif auftreten, wie all die Doppelmoralisten und Sozialmörder Tannhäusers. Aber möglicherweise wären dann die in diesen Opern enthaltenen Anklagen gegen fühllose korrupte Männer mit Macht zu heftig-deftig und der angepeilte „künstlerische“ Profilierungseffekt würde mit „politisch Lied – gar garstig Lied“ verhindert.

Sollten nicht im Gegenteil in einer Gegenwart, in der die tägliche Kriminalberichterstattung zeigt, wie viele Menschen wieder ihren Verdammungs- und Racheimpulsen in hilflosen „Aktivitäten“ erliegen, die Regisseure von Festspielinszenierungen (die ja vielfach zeitnah von TV-Anstalten übertragen werden) der Sängerschaft subtilere Gefühle zu „erlauben“? (Man kann die Rachearie des Rigoletto auch weniger kraftstrotzend singen, als der wunderbare Leo Nucci s. https://www.youtube.com/watch?v=03GZ1DRghDk – so, dass auch mehr Verzweiflung spürbar würde.)  Ich habe aber den Eindruck, das überraschende Optische – der „Schein“ von Stärke im Doppelsinn des Wortes – soll die dadurch camouflierte Ohnmacht nicht spürbar werden lassen. Aber genau diese – das Grundgefühl vieler Menschen heute – zu verdeutlichen, kann helfen, nicht nur zuzusehen sondern auch mitzufühlen.