Fast jeder Mensch hat schon Situationen erlebt, in denen man meint, diese nicht überleben zu können – und meist sind es Verlusterlebnisse: Man verliert etwa eine lebenswichtige Beziehung, Existenzgrundlage, Sicherheitsgefühl, Gesundheit … und Lebensmut. (Das und noch mehr habe ich auch in meinem letzten Buch „Komme was da wolle – Krisenkompetenz“ behandelt.) Manchmal heißt es dann, Auslöser wären „nur“ Hormonschwankungen (besonders in der Pubertät oder im Wechsel), aber auch die kann man als Reaktionen auf veränderte Umweltbedingungen (Beziehungen mitgemeint) verstehen, daher gilt es, diese beiden (!) Veränderungen wahrzunehmen (und nicht zu verharmlosen und schon gar nicht zu dramatisieren). Ich sehe das vor allem auch als dringliche Aufgabe für den Biologie-Unterricht.

Lebensfreude und Lebensmut werden der psychischen Gesundheit zugezählt – deswegen wird erwartet, dass man das einfach von Geburt an „hat“. Beides ist aber ein „Prozess“ – manchmal hat man mehr, manchmal weniger, und manchmal hat man das Gefühl, es schrumpft und wird immer weniger und weniger … Aber alles, was wir „können“ (als Können „haben“) müssen wir lernen – d. h. wir müssen dazu Wahrnehmungsnervenzellen entwickelt haben und auch Handlungsnervenzellen für eben diese Situationen, in denen das bisherige Verhaltensrepertoire nicht ausreicht, um mutig selbst in eine dunkelgraue Zukunft zu schauen. Deswegen spreche ich gerne vom „Wetterbericht der Seele“: Auch das trübste Wetter kann sich plötzlich „aufheitern“, wenn sich die Sonne – unsere „natürliche“ Energiequelle (erinnern wir uns an die totale Sonnenfinsternis 1999, wie kalt und leblos sich die Welt plötzlich angefühlt hat!)  – wieder zeigt.

In die Stammbücher der Kindheit wurde oft geschrieben: Hab Sonne im Herzen! Aber kaum jemand „macht vor“ wie wir für Licht-Blicke sorgen – ganz im Gegenteil. Was man bekommt, sind wenig hilfreiche Sätze wie „Das wird schon wieder!“ oder „Reiß dich zusammen!“ Was man hingegen braucht, ist Begleitung – durch eine Person, die die „dunkle Nacht der Seele“ aus eigener Überlebens-Erfahrung aushält und daher die Angst vor ihr zu bewältigen weiß.

Deshalb finde ich die mediale Berichterstattung über die geforderte Entscheidung des Verfassungsgerichtshof zur Straffreiheit des „assistierten“ Suizids nicht hilfreich. Sprache hat Suggestivwirkung – und für Betroffene wird damit ein geistiges Bild eines einfachen „Not-Ausgangs“ aus der Seelenverdunklung eingepflanzt. Untersuchungen haben gezeigt, dass eines der wesentlichen Suizidmotive lautet, „anderen nicht zur Last fallen zu wollen“ – und das heißt auch, auf das („aggressive“) Zu-nahe-treten mit der Forderung (nicht nur zagen Bitte) um Beistand und Unterstützung zu verzichten. Aggression heißt im Lateinischen wörtlich, auf etwas / jemand zugehen. Dazu braucht man Vorbilder, Anleitungen, Zuspruch – damit der Antrieb, etwas zu verändern, sich nicht destruktiv auf das eigene Leben richtet, sondern konstruktiv auf uns alle – die Gesellschaft.

Das Symposium „Der Papageno-Effekt“ zur Suizid-Prävention am Mittwoch, dem 14.10.2020, 17–20 Uhr, an dem auch ich mitwirke, ist auch per Online-Video zugänglich: https://www.vsum.tv/veranstaltungen/papageno-effekt/?utm_source=VsUM+Newsletter+ab+September+2020&utm_campaign=09607fab51-EMAIL_CAMPAIGN_2020_09_20_09_27_COPY_01&utm_medium=email&utm_term=0_8e5eca3293-09607fab51-370925415