Dass der Tausendmeilenweg mit einem Schritt beginnt, wird Laotse oft zitiert [https://www.aphorismen.de/zitat/13967]. In meiner Sexualtherapie-Ausbildung betonte die Lehrtherapeutin Dr. med. Verena Middendorp, eine gelungene sexuelle Begegnung begänne mit einem freundlichen Zulächeln beim Aufstehen frühmorgens. Dementsprechend könnte man auch sagen, jeder Krieg beginnt mit einer Demütigung – einem Vorenthalten von Respekt – und diese Ur-Sache kann in der frühesten Kindheit wurzeln und ein Leben lang wachsen, wenn sie nicht verändert wird.

Aber so wie der Athener Historiker Thukydides (ca. 454–398 v. Chr.) [https://de.wikipedia.org/wiki/Thukydides] aufzeigte, dass Schönheit im Auge des Betrachters liege, könnte man analog formulieren, dass Demütigung im Herzen des Empfindenden liegt: Ob er oder sie dies dann mit einem souveränen Bonmot, mit Protest oder mit Kampf- und Kriegshandlungen beantwortet, liegt an friedliebender oder kampflustiger Gesinnung – und dem Finden oder Erfinden von alternativen Verhaltensweisen.

Derzeit dominieren Kriegsgesinnungen und mutwillige „erste Schritte“: Das beginnt beispielsweise mit den Bemühungen mancher Aktivist:innen der „cancel culture“ [https://de.wikipedia.org/wiki/Cancel_Culture], die Beseitigung von Erinnerungssymbolen wie Ortsbezeichnungen, Denkmälern oder Museen zu fordern. Ich finde es richtig, von Zeit zu Zeit zu überprüfen, ob das „Denk mal!“ seinen Zweck erfüllt und allenfalls zur Zeit der Einführung positiv Gedachtes durch kritische Zusatzinformationen zu ergänzen, wenn Negatives bekannt wird. Aber Beseitigung bzw. Vernichtung finde ich nicht richtig. Das wäre eine Kriegshandlung.

Ähnlich sehe ich die sogenannte Bekämpfung von „cultural appropriation“ [https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturelle_Aneignung], mit der „Angehörigen einer anderen Kultur“ verboten bzw. vermiest werden soll, „eigenständiges Traditionsgut“ zu nutzen oder Eigenheiten nachzuahmen, seien es nun Dreadlocks, Nasenringe, religiöse oder nationale Symbole usw. – mich erinnert dies an den „Selbstsüchtigen Riesen“ (selfish giant) [https://de.wikipedia.org/wiki/Der_selbsts%C3%BCchtige_Riese] bei Oscar Wilde, der die Kinder aus seinem Garten vertreibt, weil er niemandem die Früchte seiner Obstbäume gönnen mag.

Warum soll nur ein dunkelhäutiger Tenor den Othello singen dürfen oder ein chinesischer den Prinzen Sou Chong im „Land des Lächelns“? Warum sollen nur Angehörige der jeweils betroffenen Minderheit ihre berechtigten Anliegen vertreten – und nicht auch solidarische Sympathisant:innen? Warum soll Tarzan nicht jodeln dürfen und Coco Chanel ihre berühmten passepoilierten Jäckchen den Tiroler Trachten abschauen? Warum sollen sich Kulturen nicht freiwillig vermischen dürfen? Sie tun es ja ohnedies – ein Zeichen von Anerkennung und – Liebe.

Es ist zwar üblich und sinnvoll, dass zu Beginn von Protestbewegungen Betroffene unter sich bleiben wollen – vor allem um Spionage, Verrat und Gegenmaßnahmen zu verhindern. Jedoch: Gegen Gewalt hilft vor allem Öffentlichkeit – und solidarisches Zueinanderstehen, und das braucht Empathie. Die zeigt sich auch in der ehrenden Übernahme kultureller Symbole, im Mittragen kultureller Vielfalt – und im Vermeiden der Spaltung in „die WIR“ und „die ANDEREN“ (wie es der Linzer Wirtschaftsprofessor Walter Ötsch [https://walteroetsch.at/] in seinem Pflichtbuch „Haider light – Handbuch für Demagogie“, Czernin Verlag, ausführlich enttarnt hat).