Eine Flut von Hasskommentaren hätte Schauspieler Till Schweiger erhalten, schrieb DER STANDARD am 16. August (Seite 28), nachdem in einem Video zu sehen war, dass er seine 20jährige Tochter Lilli auf den Mund küsste. (Darauf habe er mit einem neuen Video mit Wangenkuss und „Nochmals Vater-Tochter-Liebe ohne Küsse auf die Lippen. Jetzt zufrieden?“ gekontert.)

Mich erinnert das an die viele „Skandale“, in denen Lokalbesitzer_innen „küssende“ homosexuelle Paare ihres Lokals verwiesen, weil sich angeblich andere Gäste angewidert fühlen würden. In einem dieser mir persönlich bekannten Fälle hatte der ältere Mann – ein guter Freund von mir – den Jüngeren getröstet, der unmittelbar zuvor eine Prüfung nicht bestanden hatte. Er erzählte mir, dass gleichzeitig an einem der Nebentische ein Hetero-Paar in leidenschaftliche Schmuserei verstrickt war, während er nur ein „Weine-doch-nicht-Bussi“ gegeben hätte. Aber offensichtlich hatte er die sexuelle Identität des Pizzeria-Wirten gefährdet. In einem anderen Fall, der einen Empörungsschrei in der Tagesberichterstattung auslöste, hatte die Besitzerin des altehrwürdigen Café Prückl zwei Frauen aus dem Lokal gewiesen, weil sie sich geküsst hatten – sich allerdings Tage und Berichte später im Nachhinein entschuldigt und eine Versöhnungsgeste angeboten.

Die Tugendwächter sind überall – und sie „erregen“ sich (im Doppelsinn des Wortes), wenn ihre Phantasien mit ihnen durchgehen. Sie sehen etwas – und schon laufen die geistigen Bilder in Fortsetzung des Geschehens,  wie es aus vielen Filmszenen bekannt und neuronal eingespeichert ist. Was hingegen nicht verwirklicht wird ist Mitfühlen. Dann würde man nämlich den Unterschied zwischen gelebter Herzenswärme, Freundschaft, Liebe und Erotik, Begehren, Leidenschaft und Gewalt! erkennen – denn für viele sind die Zwangsküssereien der Bussi-Bussi-Gesellschaft unerwünschtes Eindringen in den Intimbereich. Und klar gibt es auch sexuelle Ausbeutung von Kindern durch nahe Anverwandte, und Augenzeuge in unklaren Situationen zu werden ist unangenehm. Ich habe selbst einmal erlebt, wie ein Kollege (Universitätsprofessor, Psychotherapeut) seine Hände nicht von seiner erwachsenen Tochter ließ und ich konnte – vor allem an ihrem eigenartigen Lächeln – nicht klar erkennen, ob das nun Gewohnheit war oder gezielte Provokation. Damals – vor mehr als 15 Jahren – war ich aber noch nicht so weit, „kindlich naiv“ zu fragen: „Ist das jetzt eine Überschreitung der Inzestschranke?“, denn damals hatte ich meine Methode PROvokativpädagogik (s. mein gleichnamiges Buch) noch nicht entwickelt.

Es besteht ein großer Unterschied in der Aktion zwischen einem Bussi, einem Kuss, einer Schmuserei und was es sonst noch an Differenzierungen gibt … die Personen hingegen sind austauschbar. Einer meiner Söhne pflegt sich immer mit einem „dicken Bussi“ von mir zu verabschieden – und das geht von ihm aus, während mein anderer jeglichen Körperkontakt scheut, generell, nicht nur bei mir. Er gleicht eher mir – denn ich selbst mag auch nur von ganz wenigen Freunden umarmt und gebusselt werden weil ich genau spüre, ob das nicht einmal ein Sympathiebeweis ist sondern nur gedankenloses Gehabe, Demonstration vorgetäuschter Vertrautheit oder strategisches Manöver (wie etwa bei Walter Ulbricht und Leonid Breschnew). Wenn mich allerdings zu „leidenschaftliche“ Zärtlichkeiten bei anderen irritieren – was selten der Fall ist – weiß ich nett und freundlich darum zu bitten, ihren „beginnenden Paarungsakt in intimere Räume zu verlegen“.