Von der „Publikumsbeschimpfung“ zur „Medienbeschimpfung“ habe ich mir gedacht, als ich Peter Handkes verbale Müllabfuhr anlässlich seiner geplanten Ehrung in seinem Geburtsort Griffen (Kärnten) im Fernsehen miterlebte. Leider finde ich heute keine Dokumentation im Internet, aber ich erinnere mich, dass er mindestens zweimal das Wort „Scheiße“ in Richtung der angereisten Journalisten in den Mund nahm. Dafür fand ich heute ein Interview zum Thema „europäische Werte“ aus ORF III (https://www.youtube.com/watch?v=hyfmL74lKHg), in dem ihm das Wort „Arschlöcher“ von den Lippen perlt. (Nicht auszudenken, wie die Reaktion wäre, wenn eine Schriftstellerin wagen würde, sich derart daneben zu benehmen!)

Es stellen sich für mich folgende Fragen bzw. Interpretationen: Ist es nur eine Form von narzisstischer Kränkung, wenn ihn Journalisten danach fragen, was er (geboren 1941) – Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 2019 – zu der wohl nachvollziehbaren Kritik von Saša Stanišić – geboren 1978 in Višegrad, Träger des Deutschen Buchpreis 2019 – an Handkes „eigenwilliger“ Position zu dem Massaker von Srebenica sage, statt ihn ausschließlich zu seinem Werk zu befragen? Will er dafür keine Verantwortung übernehmen – gar nicht daran erinnert werden?

Oder sind Fragen zu seiner Person tabu? Hält er sich für sakrosankt? Will er abblocken, dass ein Kollege der Söhne-Generation möglicherweise ein Tribunal zwecks Vatermord heraufbeschwört? Oder hat ihn die Preisvergabe in eine Krise gestürzt, wie es ja oft vorkommt, wenn jemand ein langersehntes Ziel erreicht, und er war „außer sich“? Aber warum hat er sich dann nicht nach einer Ruhepause entschuldigt? War ihm alles zu viel und es ist Verzweiflung über zuviel Aufmerksamkeit bzw. Verlust von Privatheit, die aus ihm herausgebrochen ist? Oder steckt in dem optisch zarten Mann bloß ein brutaler Rüpel, der zwar stark im Geben aber schwach Im Nehmen ist?

Ich weiß aus meinen eigenen Supervisionen, wie schmerzhaft es sein kann, wenn das Fremdbild arg vom Selbstbild differiert – aber dass man dann eben lernen muss, auf die „Behauptung“ der eigenen Sichtweise zu verzichten und die des oder der jeweiligen Opponenten als „nur deren Interpretation“ vorbei ziehen zu lassen – denn die sagt mehr über deren Motive und Ziele aus, als über eine objektive Bewertung (die es ohnedies nicht gibt: Wir alle neigen zu Vorurteilen, quasi Erstbewertungen, und benötigen Mut zur Selbstüberprüfung, ob andere vielleicht doch einen Schattenanteil erahnt oder sogar beobachtet haben oder ihre Ressentiments ausagieren). Auf Kritik sollte man sich aber immer vorbereiten, wenn man in die Öffentlichkeit tritt. Dazu gehört auch die Erkenntnis: Von Kritikern Fairness zu verlangen, hieße, ihnen Eigenmacht zu übertragen. Man will dann ja etwas von ihnen und gibt ihnen genau damit die Möglichkeit der Verweigerung.

Andererseits leben wir heute in einer Ära der Dekapitation („Enthauptung“) von abgehobenen selbstgerechten Oberhäuptern: Zuerst traf es Top-Manager (ich erinnere an den AKH-Skandal) und Spitzenpolitiker, dann NS-belastete Wissenschafter (z. B. Konrad Lorenz, derzeit den Neutestamentler Gerhard Kittel), dann Priester und sogar Bischöfe, dann Medienmogule, Dirigenten, Schauspieler, Sportgrößen (#MeToo) und jetzt eben „Dichter“, weil man gegenwärtig  schon zu Lebzeiten Schattenseiten aufzeigt und diese Biographiearbeit nicht allein späteren Historikern überlassen will.

Es geht mir dabei nicht um den konkreten Vorwurf – der gehört sachlich bearbeitet – sondern um den Umgang mit Kritik. Einschüchterungs- und Vertreibungsversuche mittels fäkaler Kraftworte sind da unpassend. Sie disqualifizieren einen zusätzlich als inhuman (denn sie enttarnen animalische Revierverteidigung: Tiere pfauchen, spucken, stinken etc.). Sie enttarnen das Ungleichgewicht zwischen Gefühlsüberflutung und Vernunftdenken – und wenn man wie Handke schon behauptet, „von Tolstoi, Homer und Cervantes“ herzukommen (und den eigenen Unterschied nicht erkennt!), dann ist das sowohl was das Werk betrifft als auch die Persönlichkeit, eigentlich eine posthume Beleidigung.