Da lese ich doch in der Kronenzeitung, die zwei einstigen Hauptdarsteller:innen in Franco Zefirellis berühmter Verfilmung von Shakespeares „Romeo und Julia“ – damals (1968) 15 und 16 Jahre alt (Missbrauchsvorwürfe – Millionen wegen Nacktszene: Stiftung wehrt sich | krone.at) – fühlten sich nunmehr rückblickend „missbraucht“ und forderten extrem hohe Gelsummen als „Entschädigung“.

Der Titel eines meiner Lieblingsbücher von dem Jungianischen Psychoanalytiker Sheldon B. Kopp fällt mir ein: „Kopfunter hängend sehe ich alles anders“. Darin heißt es: „Die Umstände ändern sich, doch die Grundmuster zwischenmenschlicher Beziehungen wiederholen sich endlos.“

Eines dieser Grundmuster besteht darin, mit dem umfangreicheren Wissen eines Erwachsenen die eigene Kindheit kritisch zu bewerten – oder „blind“ zu verteidigen, z. B. mit dem von Menschen, die als Kinder viele Schläge einstecken mussten, oft zu hörenden Satz „Meine Kindheit war hart, aber gerecht“, so wie es ihnen eben eingeredet wurde: „Es ging nicht anders – du warst anders nicht zu bändigen“ etc. etc. „Anders“ war eben im Denken vieler Eltern einfach nicht vorgesehen.

Nun könnte man annehmen, dass seit den Anschuldigungen an Ulrich Seidl, er habe die Integrität seiner jugendlichen Darsteller in seinem neuen Film „Sparta“ (in dem es laut Medienberichten um Pädophilie gehen soll) nicht ausreichend geschützt (die zwischenzeitlich als geprüft und unberechtigt befunden kommuniziert wurden), dieses Beispiel in der Filmbranche auch weltweit manche aktiviert, über ihre eigenen unangenehmen Erfahrungen kritisch nachzudenken.

Die Frage ist nur: Worauf fokussiert sich dieses Nachdenken?

Auf die Chance einer Entschädigung, die die ausgebliebene große Filmkarriere wettmacht – oder zumindest die Vergessenheit, in die man trotz des damaligen Filmerfolgs geraten ist? Auf die Frage der künstlerischen Freiheit – wessen? Des Regisseurs? Der Mimen? Der zustimmenden Eltern, die ja auch – künftiges – Publikum sind? Und: Sind Jugendliche, deren Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung erst später angesetzt wird, als Darsteller:innen vor der gesetzlichen Sexualmündigkeit berechtigt (und fähig), Entscheidungen über Nacktszenen selbst zu treffen? Welche Voraussetzungen bräuchte solch ein „informed consent“? Welche Informationen über mögliche spätere Negativfolgen gehörten dazu, und wer und wie sind solche zu vermitteln?

Vor allem aber wäre die „elterliche Gewalt“ zu thematisieren? Es ist anzunehmen, dass bereits damals die Filmschaffenden so wie heute die schriftliche Zustimmung der Erziehungsberechtigten eingeholt haben – allein wegen der Vermarktungsrechte.

Ich erinnere mich an eine Supervisions-Klientin, Pädagogin, die mir einst empört ein Foto zeigte (und schenkte), auf dem ihr Vater sie als Baby, an den Beinen kopfunter hängend, lachend vor die Kamera hielt: „Was hat er sich nur dabei gedacht? Ich bin doch kein toter Hase?!“

Als Kinder schauen wohl alle „von unten hinauf“ auf „die Großen“. Wenn man jedoch selbst „groß“ geworden sind (wenn das halbwegs gelang), sehen wir vieles anders. Dann stellt sich aber auch die eigentliche Frage: Will man eigene Erlebnisse als Teil der individuellen Biographie integrieren, besonders die nicht so angenehmen – oder will man ewig Rache suchen – oder einfach nur „Kapital daraus schlagen“?