Seit vorigem Jahr habe ich mein nächstes (61!) Buch für Kremayr & Scheriau in Arbeit – und es sollte „Haltung“ heißen: Ich wollte darin zeigen, wie man auch unter schwierigsten Bedingungen seine Würde ohne in die Fallen des selbstgefälligen Märtyrertums oder der camouflierten Rache zu stolpern behält. Als ich dann im Jänner wahrnahm, dass ein halbes Jahr früher ein Buch gleichen Titels erscheinen würde und der Autor der Alt-Vizekanzler sein würde, meditierte ich hinsichtlich eines neuen Titels: „Aufrichten!“

Nachdem ich dankenswerterweise ein Rezensionsexemplar des Mitterlehner-Buches zugesandt bekam, war ich logischerweise sehr neugierig auf den Inhalt – und erleichtert: Haltung ist etwas Statisches, Aufrichten etwas Dynamisches. Und wie schon Charles Darwin mit dem Schlagwort vom „survival of the fittest“ aufzeigte, überleben diejenigen, die sich anpassen können, und das ohne ihr Rückgrat zu verbiegen. Ich war aber auch enttäuscht – aber das zählt wohl zu meiner „Berufsdeformation“: Ich hatte gefühlstiefe Reflexion erwartet, Betonung auf tief, quasi auch als Hinweis auf eigene Motive, Visionen, Verzichte etc. Stattdessen beschreiben die ersten ein Drittel Seiten der 200 eine ganz normal langweilige Schul- und Studienzeit, wo doch gerade die inhaltliche Ausrichtung als ÖH-Funktionär interessant gewesen wäre. Mitterlehner bleibt verhalten: Wenn er schreibt „wurde mit der Heimleitung gestritten“ (S. 56), so enttarnt die Passivform, dass er nicht wirklich aktiv war. Diese Passivität zeigt sich immer wieder wie beispielsweise bei seinen Erklärungsversuchen, wieso sein „Ankommen“ im Parlament so lange gedauert habe – außer wenn er bekennt, „ich berücksichtigte auch einige Male nicht, was mir mein erster Chef Trauner eigentlich eingetrichtert hatte: Kritik ja, aber nur intern und nicht vor Zuhörern“ (S. 81). Nun, mit einem Jahr Zeitverzögerung legt er nun sein „Credo“ vor – aber wie unterscheidet sich dieses doch von dem Andreas Khols!

Dabei wäre ein Thema ganz deutlich für einen dringend notwendigen Diskurs präzisierbar gewesen: die Frage des selbsterlaubten Widerstands und der gerechtfertigten Langzeit-Strategie. Mitterlehner schreibt: „Sind diese Vorbereitungen [für die Übernahme des Parteivorsitzes] mit dem amtierenden Parteiobmann, also mir, abgestimmt worden?“ und „Und wer hat formal den Auftrag dazu gegeben? Das alles spräche dann für eine ordentliche, professionelle Vorbereitung, wie man sie sich von einer professionell abgestimmten Partei erwarten könnte. Waren die Vorbereitungen allerdings nicht abgestimmt, dann wäre alles, was im Vorfeld gelaufen ist, systematische Illoyalität.“ (S. 143). Mit der Verwendung der Suggestiv-Worte „ordentlich“ und „professionell“ wird damit indirekt untergriffig den Anderen Kompetenz abgesprochen. Das ist bestes NLP (Neurolinguistisches Programmieren), wie man es eigentlich nur von den Freiheitlichen gewohnt ist. Dabei zeigt ja der Erfolg die professionelle Kompetenz. Schade: Eine direkte Ich-Botschaft seiner echten Gefühle wäre vielleicht  authentisch gewesen und hätte ihn auch aus bloßer Lektüre „erfahrbar“ und über seinen Freundeskreis hinaus respektabel gemacht. Ich jedenfalls würde mir da mehr Diskussion wie auch wissenschaftliche Bearbeitung wünschen, immerhin geht es dabei um eine der wichtigsten Fragen von Ethik.

Loyalität bzw. Illoyalität kommen als nicht definierte Begriffe in der zweiten Hälfte des Buches noch einige Male vor … Ich meine: Es gibt mehr Sichtweisen, Positionierungen und Handlungsformen in Konflikten der Unzufriedenheit und Ungeduld als nur diese beiden. Das ist es ja, was geschichtliche Veränderungen so spannend macht! Ich erinnere mich noch gut, wie wir in der Jungen Generation der SPÖ „ohne Auftrag“, rein aus Engagement und Vorausdenken, auch Programme und Strategien entwickelt (und die dazu nötigen Schulungen der ProponentInnen durchgeführt) haben, und erkannten: Der „lange Gang durch die [hierarchischen] Institutionen“ kann durchaus abgekürzt werden, wenn man sich nicht innen über die Etagen hinauf plagt, sondern öffentlich den direkten Zugang vom Dach des Nebenhauses her wagt. Dazu muss man aber recherchieren und planen und weitgehend angstfrei sein. (Ich habe jetzt auch fast vier Tage Denkarbeit investiert, um diesen Brief so zu formulieren, dass er meiner Ethik entspricht.)

Der Zeitpunkt der Buchpräsentation am 17. April  wäre gewählt worden, wurde medial kommuniziert, weil er der Jahrestag der Gründung der ÖVP sei. Mir hat die Platzierung in der Karwoche eher Assoziationen zum Passionsgeschehen, zu Verrat und Märtyrertum aufgedrängt – mit der offenen Frage, wer der Messias ist und wer der Judas.