Gestern – Freitag – nach 18 Uhr rief mich ein Mann auf der Festnetznummer meiner Praxis an, meldete sich mit „Bernhard“ – sagte mir trotz meiner Nachfrage nicht seinen vollen Namen – und fiel folgendermaßen mit der Tür ins Haus: „San Se de Sexualberaterin?“ Ich: „Nein – ich bin Psychoanalytikerin und Juristin. Was wollen Sie von mir?“ Er, mit undeutlicher Aussprache (oder ich altersbedingt bereits etwas schwerhörig) sagt irgendetwas, er wolle mit mir darüber reden, ob die Sexualität heutzutage immer mehr eingeschränkt werde. Ich darauf: Wenn er etwas Ernsthaftes mit mir besprechen wollte, müsse er sich einen Termin holen und mich bezahlen (ist ja mein Beruf), aber: Ich sei 78 Jahre alt, derzeit in Covid-Quarantäne – und an Gesprächen mit „anlassigen Männern“ nicht interessiert. Er darauf: „Danke – ich habs verstanden.“ Und legt auf. Das hat mir gefallen.

Er hätte ja auch aggressiv oder beleidigt reagieren können – so wie manche Frauen (jünger als ich), die mich, kaum habe ich ihre Freundschaftsanfrage auf Facebook bestätigt, per Messenger mit inhaltleeren Botschaften (Blumen- oder Tierfotos) zu beglücken „wagen“ – und noch dazu per Du. Oder mich in Verkennung der sozialen Unterschiede „in ihrem Netzwerk“ willkommen heißen.

Mich erinnert das immer an eines der Seminare, die ich in den 1990er Jahren für die Verwaltungsakademie des Bundes abhielt und den Teilnehmer:innen freistellte, ob sie per Sie oder per Du arbeiten wollten (samt: ich würde per Sie bleiben). Ein Tiroler Postamtsleiter erklärte darauf allen, bei ihnen daheim sei man ab 1.000 Höhenmetern per Du, nur bei sehr ehrenvollen Personen nicht. Wie das bei mir wohl wäre, stellte ich daraufhin in den Raum. Da sah er mich lange abschätzend an und meinte dann sehr ernsthaft: „Schon per Sie!“

Regeln sollten immer andiskutiert und gemeinsam festgelegt werden – inklusive allfälligen Minderheitsrechten.

Beleidigt oder gekränkt zu reagieren, wenn „Nähewünsche“ abgelehnt werden, ist eine subtile Unterwerfungsstrategie. Ich erinnere mich an einen Vater kleiner Töchter (Berufskollege meines verstorbenen Ehemannes), der sich mit „Da muss der Papa aber weinen!“ auf den Boden kauerte, als die Dreijährige die mitgebrachte Jause verweigerte. So wird Manipulation und Gewalt von einer Generation an die andere weitergegeben und die Selbstbestimmung von klein auf verunmöglicht. „Schuldgefühle machen“ lautet der Klartext dieser Unterwerfungsstrategie – und sie erklärt, weshalb so viele geschlagene Ehefrauen bei ihren brutalen Partnern bleiben: „Wie kannst du nur so grausam sein?“ und „Was soll ich denn machen ohne dich?“ lauten dann die Vorwürfe, oft sogar seitens der eigenen Mutter (die ja sonst auch überdenken müsste, wo überall sie verabsäumt hatte, ihre Grenzen zu verteidigen).  Meine jammerte immer, wenn sie Angst vor der Kritik meines gestrengen Lehrervaters hatte, „Kind – was tust Du mir an!“ – ein klassisches Beispiel von Schuldumkehr: Es wird die eigene Angst als Folge einer angeblichen Aggression der anderen Person zugeschoben, anstatt zu erkennen, dass das Kind Erklärung und Hilfe bräuchte, um zu verstehen und zu verarbeiten, was ihm widerfahren ist.

Jetzt kommt bald Ostern und vermutlich Richard Wagners Weihespiel „Parsifal“ in TV oder Radio (Parsifal – Wikipedia): Diesem gebietet die Mutter der Höflichkeit wegen keine Fragen zu stellen – und dabei könnte er nur – „aus Mitleid wissend, der reine Tor“ – durch die Frage nach der Verletzung des Gralskönigs Amfortas diese heilen. Genauso sollte man sich selbst fragen, was man eigentlich von der anderen Person erwartet hat, wenn man merkt, dass man das Gefühl des Beleidigt Seins als Reaktion gewählt hat. Man hatte einen „Anspruch“, wie die andere Person zu sein hat (so wie es von einem selbst einst verlangt wurde) – und imitiert das Verhaltensmuster, wie es die Erziehungsperson seinerzeit vorgemacht hatte.

Nur: So erzieht man Duckmäuse – keine aufrichtigen Menschen.