Gewalt hat immer etwas mit Grenzüberschreitungen bzw. Grenzverletzungen zu tun – egal ob es sich um Körpergrenzen, Reviergrenzen oder Regeln (Anstandsregeln inbegriffen) handelt. Von struktureller Gewalt spricht man dann, wenn eine Person oder Gruppierung ohne gesetzliche oder vertragliche Ermächtigung Regeln aufstellt, die die geäußerte Selbstbestimmung anderer verletzen. (In Österreich, einer demokratischen Republik, sind Bundes-, Landes- oder Gemeinderegierungen durch die letzten Wahlergebnisse dazu legitimiert.)

In den 4-Tage-Seminaren „Gesprächsführung in schwierigen Situationen“, die ich in den 1990er Jahren regelmäßig für die Verwaltungsakademie des Bundes (und etlicher Landesregierungen) abhielt, pflegte ich immer zu Beginn die Frage zu stellen, wie es die Teilnehmenden mit dem Du-Wort halten wollten, und ein Tiroler sagte sofort, bei ihnen daheim sei man ab 1.000 m Seehöhe sowieso per Du – außer es ist jemand eine Respektsperson. Ob ich das auch wäre, fragte ich, und da dachte er lange nach und sagte dann, „Ja – schon.“

Heute hingegen pflege ich zu scherzen, wenn ich gefragt werde, wie man mich ansprechen soll, Frau Doktorin, Frau Universitätsprofessorin oder Frau Pfarrerin, und antworte betont listig. „Sagen Sie doch einfach Hochwürden!“ 😊, denn ich finde es nicht richtig, sich von oben herab abzugrenzen. Frauen kennen das, wenn sie im Beruf an die „gläserne Decke“ stoßen.

Das Du-Wort kann auch als Grenze missbraucht werden, klassisches Beispiel wenn Erwachsene andere als Kinder behandeln. Insofern hat mir gefallen, dass Kathrin Glock im Ibiza-Untersuchungsausschuss die üblichen Einschüchterer korrigierte, man möge sie nicht wie ein Schulmädchen behandeln. Dass ihr daraufhin umgehend ihr Aufsichtsratsmandat in der Austro-Control entzogen wurde (Nach „Ibiza“-U-Ausschuss: Kathrin Glock als Austro Control-Aufsichtsrätin entlassen (meinbezirk.at)), lässt vermuten, dass dies ohnedies geplant war und man nur einen passenden Anknüpfungspunkt gesucht hat – die Würde des Parlaments kann es ja wohl nicht gewesen sein, denn von der merkt man ja kaum was – so wie die Abgeordneten miteinander umgehen. Grenzverletzend.

In meiner Jugend gab es fixe Benimmregeln. Dazu gehörte auch, dass die ältere, statushöhere bzw. weibliche Person der jüngeren die Hand reichte oder das Du-Wort anbot – nicht umgekehrt. „Benimmpapst“ Thomas Schäfer-Elmayer, zwei Jahre jünger als ich, ist in meinem Bekanntenkreis der einzige Mann, der immer wartet, dass ich ihm die Hand gebe – alle anderen halten es eher mit „Überfällen“, und dann reagiere ich demonstrativ „erschreckt“ (d. h. PROvokativmethodisch) und erkläre danach den Grund. Wenn mir jemand das Du-Wort aufdrängen will, halte ich es ebenso. Ich dulde keine Gewalt gegen mich.

Abgeschaut habe ich mir das von Hertha Firnberg (1909–1994), der ersten österreichischen Wissenschaftsministerin (SPÖ), die immer eisig beim Sie blieb, wenn sich jemand ihr gegenüber das Partei-Du herausnahm, ohne dass es eine gemeinsame Biographie gab, die das gerechtfertigt hätte. Versuch, „unerwünschte Nähe“ zu erzwingen, nennt das der Gewaltexperte Gavin de Becker. Wenn man dann eine Grenze zieht, respektieren das Menschen, die auf Gewalt verzichten – die anderen werfen einem Überheblichkeit vor (und mir noch dazu, dass ich meinen Beruf verfehlt hätte, aber darauf reagiere ich nicht – ich habe ja erstens sieben Berufe, müsste daher fragen: Welchen?, und zweitens weiß ich ohnedies, dass viele fordern, Psychotherapeuten müssten immer lieb und gewährend sein – aber schon Sigmund Freud erklärte, was auf seiner Couch liegend erlaubt wäre (beispielsweise Randale), sei im Wartezimmer noch verboten). Sie verteidigen nur ihre eigene Überheblichkeit – und das dürfen sie ja auch, solange sie im eigenen Revier bleiben.