Zum Foto des Jahres 2018 wurde ein Bild von John Moore gewählt, dass ein etwa 2jähriges  Mädchen zeigt, das herzerweichend weinend vor seiner Mutter steht, die gerade von einer US-Grenzbeamtin der Leibesvisitation unterzogen wird. Dazu titeln die Salzburger Nachrichten (7. September 2019, Seite 8): „Ein Mädchen erschrickt an der US-Grenze“. Das empfinde ich als Fehlinterpretation.

Wer Erfahrung mit so kleinen Kindern hat, erkennt aber sogleich: Das Mädchen erschrickt nicht — es ist verstört, desorientiert und verzweifelt.

Wenn ein kleines Kind erschrickt, sucht es die Nähe zu seiner Mutter (oder sonst anwesenden Bezugsperson) und Körperkontakt. Was beruhigt, beruhigen kann, ist das Anhalten des Zeitlaufs. Wenn aber diese körperliche Zuflucht unterbunden wird (was übrigens auch grausame Elternteile praktizieren), wehren sich Kinder mit den ihnen zur Verfügung stehenden Verhaltensweisen und drücken damit noch authentisch ihre Gefühlslage aus: Sie schreien, weinen, zittern, entleeren sich — sie versuchen auf diese Weise „automatisch“ ihre Stresshormonausschüttungen „aus-zu-drücken“. Wenn ihnen erklärt wird, was geschehen ist und womit dies zusammenhängt, können Langzeittraumatisierungen meist hintangehalten werden — selbst wenn das Kind noch zu klein sein sollte, um die Worte zu verstehen, versteht es doch den Sinn.

Bei dem kleinen Mädchen aus Honduras ist zu befürchten, dass die Perlustrierung zu lange dauert, die Mutter (wie viele Menschen) unwissend und überdies selbst verstört ist, und dass man daher auf dem Bild die existenzielle Not des Kindes erkennen kann, die vermutlich ein schwerwiegendes Trauma begründet. Ich vermute, dass sich das Mädchen in sich selbst zurückziehen wird und später mit gelegentlichen Gewaltausbrüchen auffällig werden wird. Dass es nicht leicht ist, für solch ein dramatisches Bild passende Worte zu finden, ist mir als u. a. auch Medienarbeiterin bewusst: Genau dieses Bild sagt ja auch mehr als tausend Worte. Ich hätte vielleicht „Vom Drama zum Trauma“ vorgeschlagen …

Ebenso bewerte ich (als langjährige Gerichtssachverständige) es als krasse Fehlinterpretation, wenn in der gleichen Ausgabe der SN (diesmal auf Seite 11) über die Verurteilung eines Ehepaares wegen sexuellem Missbrauch ihrer Tochter die Staatsanwältin mit „Die Mutter hat den unüblichen Sexualtrieb des Mädchens auch noch gefördert“ zitiert wird. Weiters ist zu lesen: „Die Tochter der 37jährigen ist seit ihrem elften Lebensjahr in einem Heim untergebracht, sie war schon als Kind verhaltensauffällig.“, und: „Der 51jährige sagt, er habe eigentlich nie ein sexuelles Interesse an seiner heute 16jährigen Stieftochter gehabt; Aber sie ist aufdringlich geworden‘.“ Auf die Idee, das verstörendes Verhalten — falls es jemanden überhaupt verstört und nicht im Gegenteil sehr angenehm ist — nur aufzeigt, dass jemand verstört wurde, ist anscheinend niemand gekommen … dabei sollte bekannt sein, dass „sexualisiertes Verhalten“ von Kindern, Jugendlichen aber auch Erwachsenen ein sicheres Anzeichen für sexuelle Traumatisierung darstellt.

Genau deswegen fordere ich seit Jahrzehnten sowohl im akademischen Unterricht wie ebenso in meiner Publizistik — übrigens auch in der Zeit, als ich häufig Kommentare in den Salzburger Nachrichten schrieb (in den 1990er Jahren) — dass bei solchen Meldungen immer aufklärende Informationen dazu gestellt werden sollten.