Ex-Papst Benedikt XVI glaubt es genau zu wissen: Die 1968er sind schuld an den sexuellen Übergriffen von Priestern, weil sie Homosexualität legitimiert hätten (https://www.saarbruecker-zeitung.de/nachrichten/politik/ausland/benedikt-xvi-klima-der-68er-schuld-am-missbrauchskandal_aid-38056879).  Zumindest schreibe er das in einem 19 Seiten langen Manifest im bayrischen Klerusblatt, dessen Veröffentlichung laut seinen Angaben mit dem Vatikan abgestimmt ist.

Im Klartext sieht er keine Erfolge der seinerzeitigen wie nachfolgenden Priesterausbildungen, keine soziale Wirksamkeit der jeweiligen Vertrauenspriester (eine Art Supervision der Lebensgestaltung, daher auch unter Wahrheitspflicht – und ein Priester sollte ohnedies nie lügen!) und schon gar keine individuelle Verantwortlichkeit seiner Mitbrüder, sondern „die zeitgenössische Kultur ist des Teufels, die traditionelle, rechte Morallehre der Kirche wird vom Zeitgeist ins Martyrium verdrängt“ (Zitat aus der Saarbrücker Zeitung).

Nun möchte ich die persönliche Meinung des 92jährigen als seine Sicht der Dinge wohl respektieren – aber doch aufzeigen, wo er nicht sieht sondern fantasiert: Er generalisiert (d. h. setzt allgemein), wo es sich um Minderheitenexperimente einiger Berliner Kommunarden handelte – nachzulesen in Helmut Kentler (Herausgeber), „Sexualwesen Mensch“, Piper Verlag. Und genau die Kleinkinder dieser Kommunarden waren es, die als Erwachsene (also in den späten 1980er Jahren) die sexuellen Übergriffe ihrer Väter und anderer Erziehungspersonen in Selbstzeugnissen öffentlich und damit Präventionsmaßnahmen und Heilung möglich machten, während der Miss-Brauch im kirchlichen Bereich weiter ging und noch immer geht (wie anderswo auch).

Psychoanalytisch formuliert, werden derart unerwünschte bzw. (kirchlich) verbotene eigene Seelenanteile (z. B. sexuelle Impulse) als Verlockung bzw. Zwang durch eine fremde Macht (Teufel, 1968er, vorpubertäre, daher mädchenhafte Knaben bzw. knabenhafte Mädchen als VerführerInnen) gedeutet. Dass Strafverteidiger den Mythos von der Unwiderstehlichkeit von Verlockungen („Ich konnte nicht anders“) behaupten, mag manche Richterschaft ohne sexuologische Kenntnisse überzeugen – den biologischen Tatsachen entspricht es nicht, denn der Verteidigungssatz müsste wahrhaft lauten „Ich wollte nicht anders“.

Statt „fauler Ausreden“ wäre endlich „aktives Aus-reden“ erforderlich, nicht Schuldverschiebungen sondern Schuldeinbekenntnisse. Keine Selbsterlösung von der Schuld – auch der des Zu-lange-weggesehen-Habens, Versetzens, Verschweigens, Mythenbildens … und auch der Diskriminierung von Menschen, die sich nicht der repressiven Zwangsmoral unterwerfen (da gab es ja auch einige Päpste …), aber nicht aus Lust an Grenzüberschreitungen, sondern einfach aus Liebe.