Von dem Psychoanalytiker Sándor Ferenczi (1863–1933) gibt es einen verschriftlichten Vortrag „Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind“, in dem er sexuelle Übergriffe so erklärt, dass kleine Kinder in der Sprache der Zärtlichkeit „sprächen“, wenn sie einen geliebten Erwachsenen beispielsweise umarmen oder küssen, aber manche Erwachsene darauf in der Sprache der Leidenschaft und damit unangemessen, grenzüberschreitend und damit letztlich gewalttätig antworteten.

Man kann nunmehr die Frage stellen: Aus welchen Motiven nehmen sich Erwachsene (oder Mächtigere) diese Freiheit oder besser Frechheit heraus? Weil sie unwissend sind, dass sie damit gesundheitsschädlich wirken? Weil sie es so gewohnt sind – vielleicht aus eigenem Erleben anderen das antun was ihnen angetan (und verharmlost) wurde? Weil sie Grenzen austesten wollen? Weil sie glauben, dass sie sich alles erlauben können – und Kinder (oder Schwächere) alles erdulden müssen? Oder weil ihnen andere „wurscht“ sind? Oder weil sie einfach nicht denken wollen? Oder … Motive gibt es viele, welche im konkreten Fall bestimmend sind, kann man nur in der eigenen Reaktion erspüren oder in gezielter Beobachtung erahnen – denn „zugeben“ und sich entschuldigen setzt ja Selbstreflexion und Bekennermut voraus.

Das Thema beschäftigt mich derzeit aus aktuellen Anlass: Ich bin keine Freundin der Bussi-Bussi-Gesellschaft, mag schon gar nicht, wenn mich weitgehend Fremde (vor allem Frauen) umarmen oder abbusseln wollen, aber manchen meiner Freunde (männlich), die ich sehr schätze und denen ich viel zu verdanken habe, gebe ich gerne Wangenküsse und damit gleichzeitig auch meinen Segen (und folge als über 74jährige evangelische Pfarrerin damit auch dem Beispiel von Jesus) und wenn ich nicht so klein wäre, würde ich sie eigentlich auf die Stirn küssen. Aber nun ist es mir passiert, dass einer dieser Freunde (der einzige gleichaltrige – alle anderen sind jünger, die meisten sogar wesentlich) bei den letzten beiden Begegnungen versucht hat, mich auf den Mund zu küssen. Er kam mir jedenfalls viel zu nahe und ich wollte das nicht, aber beim ersten Mal war es mir eigentlich noch egal.

Beim ersten Mal war ich zwar irritiert, dachte jedoch noch „wohlwollend“, er hat halt daneben gezielt. Hat sich geirrt. Ist patschert.

Aber beim zweiten Mal spürte ich Testosteron und wusste: Das ist jetzt ein Test – und das war mir nicht mehr egal. Ich bin ihm wieder ausgewichen – aber das war zu wenig. Ich spürte, ich müsste jetzt klare Worte sagen – aber da ich den „mächtigen Mann“ nicht vor den Anwesenden beschämen wollte, schwieg ich – und nun „magerlt“ mich das jetzt seit drei Tagen.

Das Wort „magerln“ besagt, dass man „Macht-Spiele“ im Bereich des Sonnengeflechts spürt, in der Fachsprache der traditionellen sogenannten östlichen Medizinsysteme wird das auch ausdrücklich beschrieben (und von eurozentristischen Besserwissern leider ignoriert, obwohl viele PatienteInnen sogar konkret sagen „Da dreht es mir den Magen um“!).

Aber vielleicht erkennt er, dass er gemeint ist, wenn er diesen Brief liest …

Sein Küsschen war nicht „in Ehren“, daher werde ich ihn in Zukunft präventiv und deutlich abwehren. Und wenn er meinen Blick dann nicht zu deuten weiß, werde ich klare Worte sprechen – egal, wer dabei ist. (Und den anderen, denen ich auch dankbar bin, werde ich weiter Küsschen in Ehren geben und mich freuen, wenn die sich darüber freuen, anstatt mich listig misszuverstehen.)