Zu den üblichen Schuldumkehrungsversuchen (im Volksmund lauten diese „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuld!“) gehört die Behauptung, man wäre „verführt“ worden. Damit wird unterstellt, das spätere Opfer einer sexuellen Miss-Handlung hätte diese selbst „inszeniert“. Oft wird sogar noch direkt während der Untat suggeriert: „Gib doch zu – du willst das doch!“ Und bei Gericht berufen sich die Täter auf „einvernehmlichen Geschlechtsverkehr“ – und so wird die Schockstarre als Zustimmung „definiert“ und der Mythos von der „insgeheim willigen Frau“ aufgebaut, die ihre heimliche Sexgier aus moralischen Gründen (oder Angst vor Vater, Bruder oder Partner) nicht zugeben will.

Als ich 1962–1966 Rechtswissenschaft studierte, bekamen wir diese Mythen noch in den Strafrechtsvorlesungen von Professor Roland Graßberger (1905–1991) suggeriert. Von Graßberger wird in Wikipedia behauptet, er wäre in der NS-Zeit in seiner Berufskarriere behindert worden. Nach seiner offizielle Biographie in Olechowski, „Die Wiener rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät 1918–1938“ stellt sich das im Gegenteil konträr dar. Ich erlebte in seinen Vorlesungen Inhalte, die ich später als NS- Gedankengut erkannte. So entdeckte ich Jahre später in der kritischen sexualpsychologischen Fachliteratur, dass andere NS-Strafrechtler Vergewaltigungen als Vorteil für die Gemeinschaft bewerteten, weil aus dem „heißen Liebeskampf“ kräftige Kinder entstünden, durch die „das deutsche Volkstum bereichert“ würde. Wieder ein Beispiel für Definitionsmacht!

Mythen sind Glaubenssätze, die von Autoritäten übernommen werden, die „man“ nicht kritisieren „darf“ – eben weil sie als Autorität definiert werden (oft von sich selbst). Man hört oder liest solch eine Alltagsdefinition und speichert sie zeitsparend im Gedächtnis ohne sich die Mühe zu machen, ob der innewohnende Anspruch zu „glauben“ zu Recht besteht. Ich frage dann beispielsweise „Wie konkret soll ich mir vorstellen, dass diese Verführung abgelaufen ist?“, und oft muss ich dann dem verständislos dreinschauenden Gegenüber nachhelfen, indem ich „anleite“: „Wenn Sie mir bitte das Geschehen wie eine Filmszene beschreiben! Wer hat dann was gemacht?“ Viele Menschen sind einfach von klein auf gewohnt, wie ihre erwachsenen Vorbilder Verantwortung auf andere abzuschieben, und oft merken sie ihren eigenen Anteil am Geschehen nicht einmal. Wenn sie sich nunmehr das Geschehene in Erinnerung rufen, erkennen sie, dass ihre Empfindungen und Bewertungen nicht den Tatsachen entsprechen – und das sieht man ihnen an.

Welche geistigen Bilder tauchen auf, wenn wir an „Verführung“ denken? Selbstbestimmtes Flirtgehabe Erwachsener? Professionelles Werbeverhalten von Angehörigen sexueller Dienstleistungsberufe? Ich erinnere mich, dass Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in der Schweiz einem 8jährigen Mädchen vom Gericht Mitschuld am erlittenen sexuellen Missbrauch zugeschoben wurde, weil der Beschuldigte behauptet hatte, es hätte ihn verführt. Deswegen halte ich sexuologische Schulungen für die Richterschaft für unbedingt notwendig (s. auch meine Seminarangebote unter  www.salutogenese.or.at).