Vergangene Woche wurde ich in einem Zeitungsinterview gefragt: „Die Passionsgeschichte ist auch die Geschichte einer Frau, die ihr Kind verliert. Wundert es Sie, dass Frauen dieses Thema kaum für sich reklamiert haben?“, und ich antwortete: „Nein – wir alle, die wir hier Erfahrungen haben, wollen in Ruhe trauern und uns nicht damit wichtigmachen.“

In der Darstellung der Kreuzigung von Matthias Grünewald ist Maria eine, die nicht klagt – sie hält den Mund geschlossen, muss aber gestützt werden, denn sie ist dabei zusammenzubrechen. (Die Kreuzigung, aus dem Isenheimer Altarbild, c.1512-15… (#155221) (meisterdrucke.at)) Josef von Nazareth, der gesetzliche Vater Jesu, fehlt. Er soll schon früher verstorben sein (Josef von Nazaret – Wikipedia). Liegt es daran, dass die Trauer eines Vaters nicht wahrgenommen wird? Oder liegt es am Modell des „starken Mannes“, dass seine Trauer als „Schwäche“ tabuisiert wird? Wo doch der Mut, zu Trauer zu stehen und sie nicht zu verbergen, wahre Stärke bedeutet!

Der Journalist Golli Marboe hat diesen Mutschritt gewagt – sogar einen doppelten, denn er musste und muss immer wieder nicht nur den Tod seines Sohnes tragen, sondern auch die Tatsache dessen Suizids. 28 Jahre war er alt.

Da hilft kein Trost „Wen die Götter lieben, den holen sie früh zu sich“ – auch wenn, wie man in Golli Marboes Buch „Notizen an Tobias“ (Residenz Verlag 2021) ersieht, sein Sohn ein hochbegabter multiprofessioneller Künstler war: Maler, Designer, Rapper, Poet, Sozialphilosoph. Was alles hätte dieser junge Mann noch zur Bereicherung der österreichischen Kunst- und Kulturszene beitragen können … wenn seine Existenz gesichert gewesen wäre.

Das ist es, was der Vater nicht tragen und ertragen will: Hinzunehmen, dass noch nicht „vermarkteten“ Künstlern, die ihr Leben aus eigener Kraft aufbauen wollen – und sich nicht vom Staat (oder den Eltern) aushalten lassen wollen – Anerkennung und Wertschätzung verweigert werden. Die Texte und Bilder im Buch zeugen von dieser großen Begabung, vom Ideenreichtum, von Originalität.

Wenn man gleichzeitig vernimmt, mit welchen Beträgen Profisportler „gehandelt“ – oder „Freunde“ auf Politposten gehievt werden – stößt einem die Magensäure auf: unverdaulich. Unerträglich.

Ich habe selbst, als ich noch Kommunalpolitikerin war, im Wiener Frauenkomitee gefordert, jede Abgeordnete sollte eine junge, arbeitslose Wissenschaftlerin als Privatsekretärin anstellen und heranbilden. Die Vorsitzende, Hertha Firnberg, fuhr mir damals mit „Wer wird denn so blöd sein, sich selbst seine Konkurrenz heranzuzüchten!“ über den Mund. Damit war der Vorschlag weg vom Fenster, das ich gerade öffnen wollte. (Heute hat jedeR AbgeordneteR eine derartige Assistenz – aber die wird vom Parlament, d. h. von uns allen, bezahlt.)

Heute borgen sich Minister oder Abgeordnete Kunstwerke aus Staatsbesitz aus und behalten sie bzw. „vergessen“ sie beim Ausscheiden zurückzustellen (Belvedere Wien bestätigt: Gemälde aus SPÖ-Zentrale muss zurückgegeben werden – Politik – VIENNA.AT). Aber gerade von den Kultursprecher*innen, wenn nicht von allen Abgeordneten wäre zu erwarten, dass sie Jungkünstler fördern – aus eigener Tasche. (Frage: Fördert Nobert Hofer seinen Lieblingsmaler Odin Wiesinger aus Eigenem?)

Gerade am Karfreitag stellt sich die Frage: Rückt „die Gesellschaft“ noch immer ab von den Außergewöhnlichen, die sich nicht andienen, und wäscht dann ihre Hände in Unschuld?

Golli Marboe schreibt: „Was kann unsere Gesellschaft zur Prävention solcher Katastrophen beitragen? Eine materielle (bedingungslose) Grundversorgung, die nicht als Almosen verstanden wird. Weder von jenen, die eine solche beschließen, noch für jene, die eine solche entgegennehmen würden. Denn wirtschaftliche Engpässe machen es vielen Kreativen unmöglich, ihrer eigentlichen Arbeit nachzugehen. Prekäre Arbeits- und Verdienstverhältnisse stellen für die große Mehrheit der künstlerisch Tätigen und jungen Selbständigen die Regel dar. Es bräuchte eine wertschätzende gesellschaftliche Atmosphäre gegenüber Menschen, die sich in keine Schemata einordnen lassen. Wenn wir uns vor Augen führen, was uns wirklich erfreut im Leben, dann sind das Melodien, Farben, Sinnsprüche oder einfach Gefühle zu anderen und von anderen.“ (S. 83) Das Gefühl der Trauer gehört auch dazu, und das Mutgefühl, mitzutrauern.