Halt! Gewalt!

Derzeit stehen neun orientalische Männer vor Gericht, denen vorgeworfen wird,  eine volltrunkene 28jährige deutsche Lehrerin zwei Stunden lang in Serie vergewaltigt zu haben. Wie fast immer bei solchen Strafprozessen behaupten die vermutlichen Täter, die inkriminierten Handlungen wären von der Frau initiiert und daher freiwillig zustande gekommen. Auf diese Schutzbehauptungen möchte ich hier nicht tiefer eingehen – sie enttarnen sich von selbst als „Schuldvertauschungsagieren“, wie es der Volksmund zynisch mit „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuld“ bezeichnet. Mit einer schweren Alkoholvergiftung von mehr als zwei Promille ist jemand im Normalfall bereits akut lebensgefährdet und braucht dringend ärztliche Hilfe, daher stellt sich für alle, die eine Person in diesem, also einem Zustand der Wehrlosigkeit wahrnehmen, allein die Aufforderung Hilfe zu leisten.

Im Wort „wahrnehmen“ steckt der Begriff der Wahrheit drin, und diese hängt davon ab, welche Wahrnehmungsnervenzellen jemand besitzt, also weiß, was er sieht, hört, spürt, tut – und das auch zugibt. Beschuldigte und Angeklagte dürfen lügen – d. h. „alles ihrer Verteidigung Dienliche vorbringen“ auch wenn es nicht wahr ist. Nur Zeugen (und Opfer von Straftaten haben den Status von Zeugen) sind bei sonstiger Strafbarkeit zur Wahrheit verpflichtet. Zur Kunst der Anwälte zählt es hingegen, mit sprachlichen Mitteln geistige Bilder zu zeichnen, die zu den Behauptungen ihrer Mandantschaft passen bzw. diese auch erst entstehen lassen.

In Vergewaltigungsprozessen taucht immer wieder die Frage auf, ob sich das sogenannte Opfer – denn korrekter wäre von „Überlebenden“ zu sprechen, ein „Opfer“ ist tot, und so würde auch die Dramatik der Attacken deutlicher – sich genug gewehrt hat bzw. sich überhaupt wehren konnte. Und genau hier berichten die Überlebenden, sie wären bewusstlos gewesen, Täter bzw. ihre Anwälte bestreiten dies dagegen, meist mit dem Hinweis, beide hätten ja miteinander gesprochen. Auch im konkreten Fall habe ich ein Fernsehinterview mit einem der Anwälte der Iraker (Dienstag abend auf Oe24TV) erlebt, in dem dieser mit genau diesem Argument darauf bestand, die Behauptung der Bewusstlosigkeit sei unwahr. Das ist ein klassisches Beispiel von „Sprachverwirrung“ – und ich nehme wohlwollenderweise an, nicht aus Taktik sondern aus Unwissenheit.

Wer nicht weiß, was „Dissoziation“ ist, sagt „bewusstlos“ und meint damit „außer sich gewesen“ zu sein – beispielsweise hoch oben in einer Zimmerecke oder weit weg in einem Nebelland oder tief unten in einem Wasserstrom. Es sind Empfindungen und Gefühle, die eben nur in Bildern ausgedrückt werden können, wenn man das Fachwort dafür nicht kennt.

Es ist eine Fachleuten der Gewaltforschung wohlbekannte Tatsache, dass Personen in Schock- oder Hochstresszuständen (wie z. B. auch, „nur“ soeben einem Autounfall entgangen zu sein) „dissoziieren“: Sie verlieren quasi als „Überlebenstechnik“ die Bewusstheit, weil sie das Unerträgliche nicht ertragen. Ihnen fehlen dann Wahrnehmungen und diese Lücken versuchen sie mit den Worten zu füllen, die sie im Sprachschatz haben. Dazu gehört das Wort „bewusstlos“, aber darunter stellen sich psychotherapeutische Laien (und dazu gehören alle, die noch kein Wahrnehmungsneuron für dieses Phänomen erworben haben – oder die das ableugnen) vor, dass sich jemand in einem so tiefen Hypnoid wie in einer chemisch induzierten Narkose befindet, in der ja die Sprachfähigkeit ausgeschaltet ist. Dabei wissen viele aber auch, dass es vorkommt, dass in solch einer Narkotisierung die Hörfähigkeit erhalten geblieben sein kann, und auch, dass es „physikalische“ Narkosen (z. B. durch Akupunktur) gibt, in  denen auch das Bewusstsein voll erhalten bleibt und die Patienten mit ihren Operateuren kommunizieren können.

Ich erlebe immer wieder, wie Leute wütend werden, wenn man sie auf inkorrekte Wortwahl aufmerksam macht. Dabei wäre es für uns alle hilfreich, „sinnerfassend“ und differenzierend zuzuhören und zu korrigieren – sich selbst, wie auch einander. Das gehört für mich zur Verantwortung für ein friedfertigendes Zusammenleben – wenn schon nicht im Vorhinein, so wenigstens im Nachhinein.