In der Zeit im Bild 2 am Montag, 22.02.2021, ereiferte sich Ulrike Guérot (* 1964) heftig – unter mehrfacher Betonung „als Politikwissenschaftlerin“ – dass der Staat (welchen die in Österreich lehrende Deutsche konkret meinte, blieb offen) 97% der Bevölkerung in Geiselhaft nähme um 3% zu schützen. Diese 3% konkretisierte sie als Alte, Kranke – Diabetiker, Asthmatiker – und Dicke. (ZIB 2 vom 22.02.2021 um 22:00 Uhr – ORF-TVthek)

Das hat mich entsetzt – erinnert es doch sehr an die NS-Denkweise vom „lebensunwertem Leben“ und deren ideologische Basis in Friedrich Nietzsches „Genealogie der Moral“ (wonach, grob gesagt, „die blonde Bestie“ auf Grund ihrer Stärke das Recht habe, die Schwachen zu dominieren).

Was mich aber noch mehr gestört hat, war die Behauptung, sie würde ein „strukturelles Argument“ einbringen – erklärt hat sie die von ihr, wohlwollend formuliert, „angedachte“ Struktur nicht. Oder meinte sie etwa den von ihr so nebenbei erwähnten Gleichheitsgrundsatz? Der betrifft bekanntlich das Verbot der Diskriminierung „vor dem Gesetz“ auf Grund von Geburt, Geschlecht, Stand, Klasse, Bekenntnis, auch bei Behinderungen (Art. 7 B-VG) – nicht aber auf Grund von Verhalten! Aus sachlichen Gründen können aber immer Ausnahmen gerechtfertigt erscheinen. Das zu überprüfen obliegt den Höchstgerichten, findet daher im Nachhinein statt und da „ist man bekanntlich immer klüger“.

Als vom Ursprungsberuf Juristin, promoviert in einer Zeit, als es noch kein Studium der Politologie gab (nur Staatswissenschaften, aber das war etwas anderes), solche Sichtweisen daher in den Lehrveranstaltungen Verfassungs- und Verwaltungsrecht inkludiert waren, hätte ich mir gewünscht, Armin Wolf hätte Guérot gefragt, wie sie es denn mit den Menschenrechten hält. Dort heißt es nämlich in der Deklaration Art. 3: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“ bzw. dem entsprechend Art. 2 in der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Wenn Guérot sich also zu der Behauptung versteigt, dass der Staat „a priori keine Schutzpflicht vor dem Tod habe“, so ist das sehr simpel gedacht … es bräuchte dann ja auch keinen Konsumentenschutz, Umweltschutz etc. Was sie nicht bedenkt – was ich aber als langjährige Politikerin in den vielen Sitzungen im Favoritner „Klub der Mandatare“, also auch mit Minister_innen des zuständigen Wahlbereichs, immer wieder durchdiskutierend erlebt habe – ist, die Aufgabe des Staates „beschränkte Ressourcen bestmöglich zu verwalten“. Dazu gehören auch die Ressourcen der Gesundheitsvorsorge, der Behandlung, der Rehabilitation.

Ich kann verstehen, dass sich manche Wissenschaftler mit extraordinären Thesen profilieren wollen und diese dann eben auch verteidigen. Andere wie die bescheidene Virologin Dorothee de Laer (* 1958) machen nur ihre Arbeit und verzichten auf mediale Kampfrhetorik.

Guérot hat, aus welchen Gründen auch immer – vielleicht Zeitnot? – eine künstliche Polarität zwischen angeblichem Lockdown-Versagen (obwohl ihr die Zahlen widersprechen s. • COVID-19 deaths per capita by country | Statista; Covid in Austria | Anwendungsverzeichnis | data.gv.at) und angeblich unnötiger staatlicher Maßnahmen zur  Sterbeverhütung  aufgebaut. Das nenne ich binäres Denken – Denken in Gegensätzen; mit ihrem mehrfach verwendeten Wort Arbitrage (vom lateinischen arbiter, Schiedsrichter) hat sie die Problematik zu einem Schiedsgericht herabgewürdigt.

Was sie nicht erkannt hat: Die „Struktur“ der Problematik ist keine binäre sondern eine komplexe. Da geht es u. a. auch darum, medizinisches Personal zu schützen, Unbelehrbare in Schranken zu weisen und letztlich Menschen nicht ersticken zu lassen – abgesehen von Lösungsmöglichkeiten für Wirtschaft und „Gesellschaft“ (in ihrer Mehrfachbedeutung).

Von einer Politikprofessorin hätte ich (ehemalige Präventionsprofessorin) mehr Reflexion erwartet.