Dass Geschmäcker verschieden sind, lernt die meiste Schülerschaft im Lateinunterricht: de gustibus non est disputandum – über Geschmäcker lässt sich nicht streiten. Aber das war einmal. Heute warten manche Menschen nur darauf, endlich ihren Frust und Hass auf irgendwen loslassen zu können, der oder die nicht ihrer Meinung ist.

Mir hat vor wenigen Stunden eine Autorin vorgeworfen, ich hätte „gar nichts“ von ihrem Werk „verstanden“, weil ich – nebst hoher Anerkennung für ihre Sprache und den Großteil ihres Werkes – zwei Details kritisiert hatte, nämlich einerseits, dass sie die berührende Darstellung der Pflegemisere des Vaters der Ich-Erzählerin durch drei detaillierte Sex-Episoden kontrastiert hatte (wobei ich wiederum die Kraft der Sprache hervorgehoben hatte) – wodurch ich das Buch nicht im Unterricht für Gesundheitsberufler:innen einsetzen kann wie ich gerne gewollt hätte: Ich lehne das kalkulierte Schielen auf die Geilheit von Leser:innen ab (und unterrichte als Neurolinguistin seit Jahrzehnten mögliche Alternativen an Universitäten und Akademien). Andererseits fand ich den Hinweis auf einen Mordfall im Wohnbereich der Autorin als intolerabel: Der erst kürzlich nach Verbüßung seiner Strafe haftentlassene greise und invalide Delinquent wurde derart verdeutlicht, dass wohl jeder Zeitungslesende im Bezirk an das Drama erinnert, und dessen Resozialisation für die letzten Lebensjahre verunmöglicht wird (und auch für seine eben dort lebenden Nachkommen, denen ich vielfach gegen die amtlichen Diskriminierungen beigestanden bin). Deswegen sieht das Gesetz ja vor, dass man Verurteilten ihre Vergangenheit ohne konkrete Berechtigung nicht vorwerfen darf. Und die fehlt im Inhalt des Buches – außer man zählt das Schielen auf die Sensationsgier der Nachbarn dazu.

Also habe ich mit meiner Kritik genau in den wunden Punkt getroffen. Wenn man als Künstler:in in die Öffentlichkeit tritt, muss man eben auch Kritik aushalten. Aber es fand sich ohnedies gleich ein Lohengrin, der sich schützend vor die unschuldige Elsa und gegen mich vermeintlich böse Ortrud gestellt hat.

Den Doppelsinn des Titels „Leibwächterin“ zwischen Sterbeambiente und Zeugungslust scheint niemand der Fangruppe registriert zu haben. Ob er gezielt beabsichtigt war oder sich unbewusst aufgedrängt hat, wäre einer Analyse wert. Die Verlegerin, der ich meine Kritik schon vor einiger Zeit mitgeteilt hatte, verlor kein Wort darüber.

Mein Thema hier ist aber die Aggression, mit der eine durchwachsene Kritik beantwortet wird. Gerade wer als Künstler:in verstanden werden will, muss auch die Gelassenheit aufbringen, andere – profane wie professionelle – Sichtweisen zu akzeptieren, als nur blinde Begeisterung zu tolerieren. Das ist die andere Seite der Freiheit der Kunst.