Rotraud A. Perner

 

… und bist du nicht willig …

… so brauch ich Gewalt, heißt es in Goethes Gedicht vom Heideröslein, das „der wilde Knabe“ brach.

Der Grad der Wildheit bildet dann auch den Unterschied, aus welchem Motiv jemand – meist männlich, seltener aber doch auch weiblich – die körperlichen, seelischen oder geistigen Grenzen einer anderen Person ignoriert, überschreitet, verletzt oder gar zerstört. Sexualisierung ist dabei nur eine thematische Färbung – und auch Machtbestätigung ist eine Projektion selbst machtbesessener Menschen. In Wirklichkeit geht es wahlweise aber auch kumulativ um Energiemangel, Selbstwertdimensionen und Verpflichtung zum Siegertum.

„Was darf man(n) denn nun noch?!“ hörte ich in den letzten Wochen so manchen kooperationswilligen Mann mit gequälter Stimmfärbung fragen. (Zu Gewalt neigende Männer mokieren sich, spotten, drohen und mobben. Das ist eine „Stufenleiter“ von Interventionen zur Schwächung des „Gegners“, diesmal weiblich, um die eigene Dominanz zu stärken. Sie kann sich auch Mann gegen Mann abspielen: Es war Cassius Clay, späterer Name Muhammad Ali, der als erster Boxer vor allem auch dadurch auffiel, dass er seine Kampfgegner vor Beginn der ersten Runde gezielt beschimpfte.)

Es lohnt sich, verschiedene Berufsblickwinkel zu differenzieren.

Aus juristischer Sicht

… zählt ein Quasi-Kodex des „gesunden Menschenverstands“ (bisher: Männerverstands) konkrete Handlungen auf, was als sexuelle Belästigung be- bzw. verurteilt und was als „harmlos“ qualifiziert wird. Dabei kann es zu so absurden Sichtweisen kommen, einen Griff aufs Gesäß nicht als sexuelle Handlung zu werten – wenn nämlich der urteilende Richter ignoriert, dass Hautsensibilität nicht nur auf Berührungsdruck, sondern bereits bei Annäherung an die „intime“ Körperdistanz – und nicht nur an erogene Zonen, die ja individuell unterschiedlich sein können – als angenehm oder unangenehm empfunden wird, jedenfalls aber Stress auslöst. (Allerdings gibt es auch Eu-Stress, der anregt, wenn manfrau „spielt“, während Dystress eindeutig Gesundheitsschädigung bewirkt.) Und es gibt Psychopathologien. Um die zu beurteilen, werden bei Gericht Sachverständige herangezogen – aber von denen hat niemand eine umfassende sexuologische Ausbildung; dazu gehört nämlich nicht nur psychologisches und psychotherapeutisches Fachwissen, sondern auch zumindest soziologisches, sozialpädagogisches, sozialtherapeutisches, sozialhistorisches und religionswissenschaftliches – und viel Erfahrung mit Betroffenen. Nur ein paar Fachbücher lesen, reicht nicht.

Was aber von forensisch-psychiatrischen Sachverständigen gut eingeschätzt werden kann, ist pathologische Distanzlosigkeit, wie sie bei manchen Gehirnschädigungen auftreten – und die können auch Folge chronischen Drogenmissbrauchs (Alkohol mitgemeint) sein.

Aus transaktionsanalytischer Sicht

… ist das Eindringen in diese „intime“ (im Gegensatz zur „sozialen“) Zone (bis auf Arm- oder Beinlänge, also Verteidigungsrevier) immer ein unbewusstes oder auch bewusstes Abtesten, wie die andere Person reagiert. Ob man(n) sie respektieren muss oder nicht, schlimmstenfalls sogar, ob sie sich als „Verbrechensopfer“ eignet. Das kann sehr bewusst geplant oder aber unbewusst ablaufen. Der amerikanische Sicherheitsberater Gavin de Becker beschreibt in seinem Buch „Vertraue deiner Angst“ sogar stereotype Begleitsätze, mit denen Widerstand von vornherein unmöglich gemacht werden soll. Echte Gewalttäter dulden keinen Widerspruch – sie verstärken in solchen Fällen nur ihre Gewalttätigkeit; wer kein Gewalttäter ist, korrigiert und entschuldigt sich sogleich – zeigt „tätige Reue“.

Die Transaktionsanalyse unterscheidet „games“ („Spiele“ wie Canasta, Kegeln etc. oder auch Fingerhakelziehen) als Interaktionen „auf Augenhöhe“ von „plays“ („Machtspielen“) als „schiefe“ Kommunikationsformen, entweder „von oben herab“ (z. B. „Ich kann viel für Sie tun, wenn …“ als Machtdemonstration oder „Stell dich nicht so an! Alle machen das!“ als Machtmissbrauch) oder „von unten hinauf“ (z. B. „Ich bin ja so einsam …“ als Mitleidsmasche), egal wie übertrieben freundlich oder bedrohlich sie inszeniert werden. Es gibt sie in der trivialen Form (wie schon oft in der Kindererziehung), als auch sexuell eingefärbt. Diese Sexualisierung kann auf selbsterlebten Grenzverletzungen beruhen (erkennbar durch Sätze wie „Hat mir nicht geschadet, wird dir auch nicht schaden“ – ein klassischer Beweis des „blinden Flecks“ in der Wahrnehmung!), auf unbedachte Unterwerfung unter einen angenommenen Zeit- oder Lokalgeist – oder aber auf Sadismus.

Nicht nur Autoritätsberufe ziehen KryptosadistInnen an – viele streben bewusst nach übergeordneten Positionen, um denen „da unten“ die „Waden vorwärts zu richten“. Sie überkompensieren damit Ohnmachtsgefühle, Hilflosigkeit, oft auch Inkompetenz (weil sie beispielsweise meinen, sich immer durchsetzen zu müssen), aber auch Einsamkeit.

In ihrem Buch „Tatort Couch“ zitierte die Sozialwissenschaftlerin Claudia Heyne eine Untersuchung des Deutschen Psychologenverbands, wonach diejenigen Psychologen sexuell übergriffig wurden, die wenig soziale Kontakte außerhalb ihrer Praxen hatten, schlechte Partnerbeziehungen und keine Supervision. Aus meiner Berufserfahrung gilt dies auch für andere Berufe – die dort meist unübliche Supervision kann analog am „diskreten“, nämlich feigen Wegschauen von Kollegenschaft oder Vorgesetzten erkannt werden.

Die kalifornische Psychologieprofessorin Nancy M. Henley (1934–2016) zeigt in ihrem Buch „Körperstrategien“ auf, wie „schief“ sich das Berührungsverhalten von weißen gegenüber farbigen Amerikanern und zusätzlich zwischen Männern und Frauen erweist: Man erkennt klar, wer sich gegenüber jemand anderen „Freiheiten herausnimmt“, die umgekehrt nicht gewagt und auch nicht geduldet würden.

Sozialgeschichtlich erklärt sich dies daraus, dass körperlich, finanziell aber auch durch Bildung oder Geburt privilegiert Stärkere andere versklaven oder anderwärtig dienstbar machen konnten. Aber jede Situation, in der zum Machtmissbrauch disponierte Menschen unkontrolliert über Abhängige verfügen können, bergen in sich die Verlockung sich an Verletzungen der körperlichen, psychischen bzw. sexuellen Integrität unterlegener Personen zu „ergötzen“.

Die rumänische Psychoanalytikerin Fanita English („Es ging doch gut – was ging denn schief?“) spricht von „übersicheren“ und „untersicheren“ Menschen. Die „Wilden“ überkompensieren ihre Mängel – beispielweise an Herkunft (Politiker!), Beliebtheit (Außenseiter), Status (Jugendliche), Attraktivität  oder eben einfach Sozialkompetenz – durch demonstrierte Übersicherheit: Sie wollen sich Bewunderung und Applaus „organisieren“ – vom anwesenden Publikum, solange ihr Agieren sich im gesellschaftlich tolerierten Rahmen bewegt, von den unsichtbaren Bezugspersonen aus Gegenwart und Vergangenheit, wenn diese Grenzen überschritten werden. Sie phantasieren sich auf diese Weise eine zustimmende „Meute“; ich nenne das „Krähensolidarität“ frei nach dem aus dem Lateinischen stammenden Sprichwort „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“

So finden sich bei denjenigen, die andere gegen deren Einverständnis sexuell „anmachen“ (im Doppelsinn des Wortes!) Menschen, die damit ihrer „Jagdlust“ frönen: Sie wollen eigentlich Trophäen als „versteinerte“ Siegesbeweise und erweisen sich damit als „nekrophil“, wie der deutsch-amerikanische Psychoanalytikers Erich Fromm (1900–1980) („Anatomie der menschlichen Destruktivität“, „Haben oder Sein“) Menschen bezeichnet, die – im Gegensatz zu den „biophilen“, d. h. das Lebendige liebenden – Totes bevorzugen, weil sie das kontrollieren können. (Beispiel: Sie erfreuen sich nicht an einer Landschaft, sondern fotografieren sie, um die Bilder in ein Album zu kleben, das sie ablegen.) Eine einseitige Bezugnahme ist tot – es findet kein „belebender“ Energieaustausch statt.

Aus energetischer Sicht

Der deutsche Psychologe und Jurist Volker Elis Pilgrim veröffentlichte 1989 ein wagemutiges Buch (das er als „Forschungsnovelle“ bezeichnete) „Der Vampirmann“, in dem er darüber philosophierte, wieso in manchen Ehen die Frauen mit der Zeit schwächeln und krank werden, während ihre Männer nur so vor Kraft zu strotzen scheinen. (Umgekehrt gibt es das auch, aber selten.)

Was er nicht so deutlich aufzeigte, weil die Körpertherapien damals noch weitgehend totgeschwiegen wurden (und auch heute noch lange nicht so anerkannt sind, wie es ihnen eigentlich gebühren würde), ist der selten dauerhaft gelingende beidseitige Austausch von Sexualenergie in Paarbeziehungen.

Die klassische Horrorgestalt des Vampirs kann als Symbol für eine schwer depressive Person interpretiert werden: So wie diese verschläft er kraftlos den Tag und wird er erst am Abend aktiv – und nähert sich dann in der Gestalt eines Liebhabers, nur küsst er nicht sondern beißt und saugt seinem „Liebesobjekt“ das Herzblut aus. Er ist bedürftig. Aber das gesteht er sich nicht ein, denn er kann sich nicht widerspiegeln. (In den Mythen haben Vampire bekanntlich kein Spiegelbild.) Auch kann er fließendes Wasser nicht überqueren; Wasser steht in Träumen oder Märchen für Gefühls-Ströme. Die muss er vermeiden, weil sie ihn in der Beweglichkeit blockieren. Erlöst werden von diesem Scheintod kann er nur durch einen Pfahl ins Herz. Das kann man als Herzöffnung, als Freisetzen seines eigenen Herzbluts interpretieren.

Der Vampir wäre also „untersicher“ im Sinne von Fanita English und geriert sich „übersicher“, um seine auserwählten Opfer zur Widerstandslosigkeit zu bringen. Dazu dringt er in den Raum der Sicherheit ein – und will man das vermeiden, muss man ihm „was stinken“. Dazu dient Knoblauch.

Als Vampirin haben Energiesauger weniger Möglichkeiten, zählen auf ihre weibliche Attraktivität – aber Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters, und wenn der oder die fest gebunden ist, fehlt freie Energie – die ist ja anderwärtig gebunden.

Werwölfe hingegen kann man zu den von vornherein „Übersicheren“ zählen, die hoch aggressiv ihren Energieüberschuss loswerden wollen (müssen) und daher andere als Beute sehen, die sie gelegentlich reißen und dann oft sogar als nicht mehr interessant liegen lassen.

Lässt man die mythischen Einkleidungen weg, zeigen sich zwei dysfunktionale Wege, mit energetischer Bedürftigkeit umzugehen: Der schmeichlerisch getarnte und der offen brutale. Beide dienen der eigenen narzisstischen Zufuhr, sie holen sich, wovon sie glauben, dass es ihnen zusteht – wie kleine Kinder im Alter von 24 bis 36 Monaten, die im schnellen Wechsel zwischen „liebe Mama!“ – „böse Mama!“ hin und her pendeln – und noch nicht beziehungsfähig sind (und das ja auch erst im Laufe der nächsten rund zehn Jahre lernen und einüben sollten).

Sie wollen „versorgt“ werden, sind aber nicht bereit, etwas dazu beizutragen. Kleine Kinder können das nicht – und wer sich nicht weiterentwickelt, auch nicht. Deshalb wird versucht, von anderen Energie zu bekommen, indem sie „von unten hinauf“ zur ewig spendenden Mutter gemacht werden oder “von oben herab“ zur bedienenden Magd. Beides verfehlt den gleichermaßen gewollten und gleichberechtigten Austausch der Sexualenergie und damit Befriedigung und lang anhaltende Sättigung.

Aber ist das heute überhaupt gewollt? Will unsere Gesellschaft nicht eher emotional ungebundene, beschleunigte und schnell international verschiebbare Arbeitskräfte, die das „Loch in der Seele“ durch Inszenierungen sexueller Hetzjagden (Hetz im Doppelsinn des Wortes!) in Kinozeit abwickeln? Und geht es dabei nicht insgeheim um die Hackordnung unter Männern, wer die Alpha-Position samt Erstnachtsrechten zumindest beansprucht – und hofft, dass niemand protestiert?