Rotraud A. Perner

 

Ursprünglich erschienen in:
Die Furche | 20-08-2015

 

Neuerlich konnte die Polizei einen Verbrecherring aufdecken – eine Tauschbörse für filmische Abbildungen sexueller Misshandlungen von Kindern. Warum tun die das, werde ich immer wieder gefragt, sind die krank, kriminell oder anarchistisch gesinnt? Eine schwierige Frage, die sich immer erst beantworten lässt, wenn man mit einer konkreten Einzelperson arbeitet – aber einige Seelenbausteine lassen sich schon identifizieren.

Zuerst ist zwischen Pädophilen, die eher schüchtern schwärmerisch schmachten und meist in Erzieherberufen sublimieren, Pädosexuellen, die in sexuellen Handlungen an oder von Kindern Lustsensationen suchen, und asozialen Pädokriminellen, die nur finanziellen Gewinn machen wollen und alle durch ihre Inszenierungen verursachten körperlichen und psychischen Schädigungen ignorieren, zu unterscheiden. Man kann Täter auch nach anderen Kriterien gruppieren, etwa solche, die selbst recht kindlich geblieben sind oder solche die Unterlegenheits-Probleme mit erwachsenen Sexualpartner/innen haben usw.; für die praktische Arbeit sind solche Kategorisierungen nicht hilfreich – sie fördern nur die eigene Besserwisserei. Ich habe in meinem Buch „Die Wahrheit wird euch frei machen“ eher grob nur nach Prognosen für Veränderungsmöglichkeiten in Uninformierte (die man nur darüber aufklären muss, was sie anrichten und die dann sofort aufhören und Korrektur versuchen), Verbitterte (die sich durch Psychotherapie psychisch rehabilitieren können) und Sadisten (wo oft ein Menschenleben zur seelischen Wiederherstellung nicht reicht) differenziert.

Sucht man nach den Verursachungen dieser (erst seit einem relativ kurzen mitteleuropäischen  Zeitablauf gesellschaftlich verpönten) Fehlhandlungen, finden sich vielfach „Urszenen“ in Kindheit oder Pubertät, in denen sich bestimmte Handlungsabläufe mit heftigen Gefühlen „verknoteten“ und so ein belastendes neuronales Netzwerk – beispielsweise Zwangsgedanken – schufen, die man durch Wiederholungsaktionen zumindest kurzfristig zu beseitigen wähnt. Doch dies erklärt nicht die Zunahme dieses Phänomens: denn eigentlich wäre zu erwarten, dass durch die nunmehr mehr als zwanzigjährige Aufklärungsarbeit intensiv Bewusstsein geschaffen wurde, dass sexuelle Kontakte „vor ihrer eigenen Zeit“ Kinder traumatisieren. Aber allein die Tatsache, dass das, was dem einen gefällt, für den oder die andere Verletzung und Langzeitfolgen bewirken kann, wollen viele nicht wahrhaben; sie müssten dann nämlich die Vorwürfe der geschädigten Person aushalten, ernst nehmen, in sich gehen, bereuen und sich um Wiedergutmachung bemühen – und das basiert als Mindestes auf der Anerkennung der eigenen Schuld. Genau das wird jedoch abgewehrt: sich selbst einerseits als Schadensverursacher, andererseits als Kriminellen wahrzunehmen.

Wahrnehmung hängt intensiv mit Benennung zusammen: Egal ob es äußere Reize sind oder innerliche Empfindungen – sie werden erst dann einer „Behandlung“ zugänglich, wenn sie durch einen „Namen“ fixiert und damit erinnerbar werden. Nur: die meisten Menschen haben weder „gelernt“ – d. h. eine Methode dazu verinnerlicht – noch wissen sie davon, auf welche Weise man die mit diesen Wahrnehmungen verknüpften Gefühle steuern kann. Das betrifft vor allem sexuelle Phantasien, sexuelle Erregung, sexuelle Handlungsabläufe und ist einer der Gründe, weswegen viele meinen, sie „hätten eben nicht anders gekonnt“. Sie hätten – wenn sie gewollt hätten, nur wollen die meisten gar nicht. Das liegt oft an ihrem Männlichkeitsverständnis: Für viele besteht es heute primär darin, sich selbst auf jeden Fall als Besserwisser zu bestätigen, egal wie sehr ihr Verhalten im Widerspruch zu den Regeln der Gesellschaft steht, und Kritik keinesfalls anzunehmen. Sekundär tritt ein unreflektierter Hegemonieanspruch dazu, auf jeden Fall Recht zu behalten und Macht über andere auszuüben, was bei Kindern am leichtesten geht. Dazu zählt auch die Macht, geheime Phantasien in Realität umzusetzen. Kinder verstehen ja ohnedies nichts, heißt es dann noch immer, und sie werden schon vergessen. Manche Männer, die wegen des Besitzes pornographischer Kinderdarstellungen inkriminiert wurden, rechtfertigen sich damit, sie hätten nur wissen wollen, was bei sexueller Misshandlung von Kindern passiere, etwa weil eine Bekannte erzählt habe, ihr Vater habe sie missbraucht. Die Verwirklichung beginnt oft beim „nur Schauen“ und kann beim eigenen Tun enden, weil „man nur einmal wissen wollte, wie sich das anfühlt“. Und vielleicht noch einmal …

Viele suchen gezielt nach sexueller Erregung um damit ihre latenten depressiven Zustände oder auch Gefühle von innerer Leere zu kompensieren; ich habe das „Eiskasten-Syndrom“ genannt: So wie jemand ohne Hunger oder Gusto nächtens den Kühlschrank durchforstet in der Hoffnung, dass irgendetwas fehlenden Appetit anregen könnte, surfen andere im Internet oder gar verbotenen Filesharing-Netzwerken nach „Erregendem“. Sie verstehen sich nicht als Verbrecher – so wie auch Hehler sich nicht als eines Diebstahls schuldig empfinden.  Sie verleugnen vor sich selbst alles außer ihrer Erregung – und die ist „nur“ ein Gefühl, keine Handlung.

Genau diese Gefühle und Empfindungen sind es auch, die von der „Pädophilen-Lobby“ – und in ihr tummeln sich viel ehrenwerte Bürger – unter dem Schlagwort Sexualerziehung als Anleitung zu einer „selbstbestimmten“ Sexualität verteidigt werden. Das bringt Verwirrung in die Debatte um Sexualpädagogik, wenn Gegner als prüde und altmodisch abgewertet werden, besonders wenn sie solche Grenzüberschreitungen nicht verharmlosen – auch wenn sie als Kunst bezeichnet werden. Bildhafte Darstellungen, die auf Erregung der Zuseherschaft zielen, werden unbewusst zu Vor-Bildern, nachgespielt, variiert und gesteigert. Genau diese Mechanismen sollten Thema einer kritischen Sexualerziehung sein – und die geht alle an, als Vorbilder und Träger von Verantwortung.