Wieder einmal bin ich gegen meinen Willen umarmt worden – von einer bislang unbekannten Frau im Alter meiner Söhne, im Windfang meines Hauses, daher ohne räumliche Ausweichmöglichkeit, und auch so schnell, dass ich mich nicht wehren konnte. Mit „Ich muss Sie jetzt umarmen!“ hat sie sich beim Verabschieden diese Freiheit herausgenommen – und schwupp war sie weg. Die Freiheit der einen endet aber dort, wo sie anderen deren Freiheit nimmt.

Meine erschrockene Erstarrung hat sie nicht wahrgenommen oder bewusst ignoriert.

Offenbar ist sie gewohnt, ihren Impulsen sofort nachzugeben, ohne zu fragen, ob sie in das „Revier“ der anderen Person eintreten darf. (Vermutlich klopft sie auch nicht an, wenn sie in ein Zimmer anderer Personen eintritt.) Obwohl in einem Heilerberuf ausgebildet, fehlt ihr die heilsame Achtsamkeit – und die Fähigkeit bzw. der Wille, Energie bei sich zu behalten (beides wäre sogar eine Therapieindikation).

In meinem Buch „(Über)leben in ‚interessanten Zeiten‘ – Leibseelische Balance unter Krisenbedingungen“ (edition roesner) habe ich daran erinnert, dass es zwei große Gruppen von Menschen gibt: Diejenigen, die wie kleine Kinder die Nähe anderer brauchen, um sich geborgen zu fühlen, und die Hochsensiblen, für die die Nähe anderer fast schmerzhaft ist, wenn sie nicht „ihre“ Zeit haben, sich an deren Energie zu gewöhnen – beispielsweise immer wieder auch an die sexuelle Erregung ihrer gewohnten LebenspartnerInnen, die sie, Zitat, „wie tausend Nadelstiche“ empfinden, selbst wenn sie sich danach sehnen.

„Aber das muss ihr doch guttun!“, protestierte einmal der Ehemann in einer Paartherapie, dem seine Ehefrau vergebens vermitteln wollte, dass er ihr keinen Raum gab, über ihr eigenes Verhalten und damit über sich selbst zu entscheiden. Er sah sich als Maß aller Dinge – wie auch manche sportbegeisterte Eltern ihre im stillen Eckerl lesebegierigen Kinder zum Erwerb körperlicher Fitness zwingen wollen und ihnen damit nicht nur voraussehbare Versagenserlebnisse verschaffen, sondern auch die nachhaltige traumatische Erfahrung des „Du bist nicht OK“, d. h. in ihrem So-Sein nicht verstanden zu werden.

Leider dominiert gerade jetzt in den Corona-bedingten Kontaktbeschränkungen die Sichtweisen der Menschen, die sich ohne körperliche Nähe nicht komplett fühlen (während sich die anderen, denen die Eigen-Zukoppelung der „Körperer“ Belastung und Belästigung darstellt, gegen unqualifizierte Vorwürfe wie „Berührungsphobie“ – eine Diagnose, die nur Psychiatern und Psychotherapeuten zusteht – wehren müssen).

Denn insgeheim liegt in jedem „Über-Griff“ auch ein unbewusster (oder bewusster siehe #metoo) Versuch inne, die eigene Dominanz auszutesten. Jeder Hundebesitzer weiß, dass bei Besuch eines Hundegastes sich am Beispiel des Fressnapfs – oder allenfalls im folgenden Kampf – in Blitzeseile klärt, wer Topdog und wer Underdog ist.

Bei Menschen kommt noch die Dimension des Energieraubs dazu: Auch wenn man anscheinend dem anderen Energie spendet, holt man sich wie ein Vampir (der ja auch in der Maske des Liebenden auftritt, nur verschenkt er sich nicht, sondern beißt und saugt aus) die Kraft des anderen. In meinem ersten Buch „Zuliebe zu Leibe“ 1991 (dessen wichtigste Texte in „Tabuthema kindliche Erotik“, LIT Verlag 2015, wieder veröffentlicht sind) habe ich darauf hingewiesen, wie Menschen mit depressiven Stimmungen gerne fremde Babys in die Arme nehmen und sich nachher, oh Wunder, wieder „erfüllt“ fühlen – eine andere Form von (emotionalem) Missbrauch.

Dass das Streicheln von Tieren entspannend, Blutdruck senkend, Immunkräfte stärkend wirkt, ist wissenschaftlich nachgewiesen. Deswegen ist diese sogenannte Tiertherapie auch die richtige Wahl – denn Haustiere wissen sich spontan zu wehren, wenn es ihnen nicht passt (und wie! – das weiß jeder Katzenbesitzer). Kinder – und wohlerzogene Menschen – können das oft nicht. Genau deswegen gibt es Benimmregeln: Es ist immer die ältere, statushöhere oder körperlich schwächere Person, die so etwas erlaubt – und die muss man darum fragen.