Ein neues Wort wird modern: woke im Sinn von Achtsamkeit, vor allem auf Geschehnisse, die kritisiert bzw. abgestellt gehören (Woke – Wikipedia). Als „neuen Moralismus“ wird Wokeness in einem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung vom 19-01-2020 bezeichnet (Wokeness – die gesteigerte Form der Political Correctness | NZZ), in Kurzfassung: „Sei wach, richte über andere, und fühle dich gut dabei“.

Aus dem Blickwinkel der psychotherapeutischen Schule der Transaktionsanalyse würde man wohl „Überheblichkeit“ aus dem Seelenzustand des „nörgelnden Eltern-Ichs“ diagnostizieren – geht es doch primär darum, den „Anderen“ mitzuteilen, dass sie „nicht OK“ sind, weil sie nicht so sind wie die „Wir“. Und von Eltern und ähnlichen Autoritäten stammen ja die ersten Erfahrungen der Abmahnung wegen mangelnder Aufmerksamkeit – und die prägen. Auch ich wurde von meinem Lehrer-Vater immer wieder abgemahnt, ihn anzublicken, wenn er mit mir redete – aber in Situationen, in denen ich empört aufblickte, den Befehl „Senke den Blick!“ erhalten. Erst in meiner NLP-Ausbildung habe ich dann registriert, dass „auditive“ (bevorzugt durch Hören wahrnehmende Menschen) oder „kinästhetische“ (die vor allem „spürenden“ Leute) im Gegensatz zu den „visuellen“ (den auf Sehen ausgerichteten Menschen) durch Blickkontakt in ihrer intensiven Wahrnehmung beeinträchtigt werden. Und in der Praxis habe ich beobachtet, welche Konflikte sogar unter Liebenden entstehen, wenn gegensätzlich orientierte Menschen randalieren „Warum bist du nicht so wie ich?“

Im Kurier vom 23. Oktober 2021 (Seite 33) kritisierte der Schriftsteller Thomas Raab, dass Nationalratsabgeordnete „gelangweilt ihre Zeit abbrummen, dabei bevorzugt auf ihr Handy starren, herumtippen, während der Reden anderer ungeniert mit Kollegen plaudern“ und setzte dies dem Verhalten unaufmerksamer Schüler gleich; als Lösung fiel ihm Handyverbot und Ausschluss ein, denn „Trotzdem dort zu sitzen: das ist demokratiepolitisch absurd.“

Wäre er mit dem Arbeitsplatz Parlament vertraut, wüsste er, dass eine der wesentlichen Qualifikationen für diese Arbeit Multitasking ist: Zuzuhören und gleichzeitig die nötigen Informationen aus dem Back Office zu erhalten bzw. anzufordern oder dank Internet selbst zu organisieren, sich mit Kolleg:innen abzustimmen oder von den Klub-Obleuten Hinweise zu bekommen – aber auch in der Cafeteria und in den Büros und anderen Lokalitäten, wohin immerzu aus dem Plenarsaal übertragen (und zusätzlich zu Abstimmungen alarmiert) wird, mitzuhören – eine Fähigkeit, die übrigens auch Mütter von Kleinkindern üblicherweise perfektioniert haben.

Eine angebliche Indianer-Weisheit lautet, man müsse erst einige Zeit in den Mokassins eines anderen gegangen sein, um ihn zu erkennen. Nur weil man selbst etwas nicht kann, heißt das noch lange nicht, dass es jemand anderer auch nicht kann. Wenn einen etwas in der konkreten Begegnung stört, so meine ich, sollte man es seinem Gegenüber direkt sagen (was sich viele nicht trauen – eben weil sie nur das aggressive Modell autoritärer Erzieher:innen kennen) – oder noch besser: Nachfragen, welche Motive oder Ziele hinter dem kritisierten Verhalten liegen und – woher es kommt, dass einen das stört.