Gibt es das wirklich, dass die Mutter nichts gemerkt hat vom Missbrauch ihrer Kinder, fragt mich die Journalistin im Interview. Ja, das gibt es, bestätige ich – und denke dabei an eine Kollegin, auch Psychotherapeutin, die in der Supervision verzweifelt geklagt hat, „Wieso habe ich nichts gemerkt? Warum hat mir meine Tochter erst nach der Scheidung erzählt, was der Vater mit ihr angestellt hat? Ja, da gab es einmal etwas vor vielen Jahren – in der Sommerfrische, mit einem Nachbarskind … aber ich habe seinen Beteuerungen geglaubt … Ich war so fest überzeugt: mein Mann doch nicht! Der tut so was nicht …“ Ich habe damals in etwa gesagt: „Weil es geplante Verbrechen an sich haben, dass sie im Verborgenen geschehen – dass sie versteckt werden – und dass alle, die einen Verdacht äußern, empört als Spinner zurück gewiesen werden …“

Das ist aber nur eine Sichtweise auf diese besondere Form des Nicht-wahrnehmens. Es gibt die Hilflosigkeit gegenüber dem Unvorstellbaren, die Anzeichen falsch deuten lässt.

Es gibt auch Angst, die den Blick verengt, in der man sich duckt und nur daran denkt, wie man selbst überlebt. Und es gibt Abhängigkeit, in der man den Täter braucht – sozial, emotional, pflegerisch, finanziell … und es gibt Verdrängung. Dieses Fachwort aus der Psychoanalyse bedeutet, dass man Erlebnisse, die man psychisch nicht ertragen und schon gar nicht bewältigen könnte, ohne sich ihrer bewusst zu werden, sofort ins Unbewusste „versenkt“ – wie einen Felsbrocken in die Tiefsee, und auch gar nicht weiß, dass es das überhaupt gegeben hat. Verdrängung ist also kein oberflächliches Wegstecken oder Verstecken mit gleichzeitigem Vergessen – es ist ein blitzartig eintretender Überlebensautomatismus. Aber genauso blitzartig kann irgendwann der verschwundene, nie gewusste Brocken wieder auftauchen – und dann brauchen Menschen Beistand, denn diese Wucht lässt sich oft nicht aushalten ohne durchzudrehen, wenn man draufkommt, dass man jahrelang auf Lügendünen gelebt hat.

Meist handelt es sich um eine Projektion, wenn man den Müttern unterstellt, sie hätten doch etwas merken müssen: Wer selbst dazu neigt, mangels Zivilcourage wegzuschauen, denkt, dass andere genau so sind wie man selbst.

Dazu kommt noch die romantische Überschätzung der Mütter als alles spendende, alles verhindernde, alles beschützende Superfrau – und diese Gloriole entlastet einen selbst vom Hinschauen, wo Mütter Beistand brauchen. Statt desssen gibt es Kitschlieder zum Muttertag à la „Mutters Hände dürfen niemals ruh’n, Mutters Hände haben viel zu tun …“ Kommenden Sonntag ist wieder Muttertag und wir werden diese Dankesliedchen in den Wunschkonzerten der Regionalradios hören …

Will man Müttern „Whistleblower-Qualitäten“ zumuten, bedeutet das auch, diesen „Verrat“ zu erlauben anstatt ihn zu verdammen. Immerhin versprechen viele Frauen anlässlich der Eheschließung, „in guten wie in schlechten Zeiten“ zum Mann zu halten. Zum Misstrauen gegen mangelnde Gesetzestreue und/oder psychische Gesundheit muss man einerseits Mut zur eigenen Intuition machen (vgl. meinen Brief Nr. 19 „Prävention“ vom 13.03.2018), man muss die Information geben, wie man Beweise sammelt, und wie man für sich (und klarerweise vor allem für die Kinder) ein Helfersystem organisiert – und man muss als helfende Institution vertrauenswürdig sein – und nervenstark.