Da postete mir eine Frau aus der Gruppe der Wiener Politweiber als Kommentar auf mein Nachfragen bei einer anderen Frau mit meinem Zusatz „Versteh ich nicht“ mit – vermutlich – höhnischem Unterton: „Sie sind doch Psychologin – das müssen Sie doch verstehen!“

Abgesehen von dieser – wenn man den möglicherweise boshaften Unterton weglässt – häufigen kindlich-naiven Unterstellung, PsychologInnen müssten allwissend sein, zeigt sich in dieser Reaktion eine häufige Sprachverwirrung: Es wird dort „vermuten“ mit hier „verstehen“ gleichgesetzt – das ist es aber nicht.

„Das Verstehen ist eine besondere Art, auf Eindrücke, die wir erhalten, zu reagieren, eine besondere Art der geistigen Herrschaft über sie.“, schreibt der berühmte austroamerikanische Psychoanalytiker und Freud-Schüler Theodor Reik (1888 Wien – 1969 New York) in seinem Grundsatzbuch „Hören mit dem dritten Ohr“: „In der Psychologie könnte man sagen, dass das Verstehen eines anderen Menschen, das Begreifen der geistigen Prozesse in der Welt um uns herum, uns in bestimmter Weise erlaubt, die Reize, die wir durch die Existenz und das Verhalten der anderen erhalten, innerlich zu meistern, unsere Eindrücke in gewissem Sinne geistig zu assimilieren.“ (S. 278), denn „Verstehen bedeutet, ein Symptom, eine nervöse Störung [Anmerkung von mir: bzw. jedwede Äußerung] bis zum Ursprung zurückzuverfolgen, um herauszufinden, ob sie zum Verdrängten, Verleugneten oder Bewussten gehört, und zu erfassen, welche Rolle der unterdrückte Impuls oder Gedanke im psychischen Haushalt des Patienten einnimmt, welche Bedeutung er für seine Persönlichkeit hat und was seine Verbindung mit anderen Symptomen sind.“ (S. 258) Verleugnetes wäre beispielsweise Aggression gegen eine bestimmte Person – Bewusstes hingegen eine gezielte Provokation oder Beleidigung.

„Der Schritt von der Vermutung zum Verstehen“, so Reik, wird „hauptsächlich dadurch erreicht, dass man sich eine genaue Kenntnis der Lebensgeschichte des Patienten [Anmerkung von mir: bzw. des jeweiligen Gegenüber] verschafft.“ ( S. 261) Dem dient ja auch das Nachfragen, denn vermuten und verstehen spielen sich auf zwei verschiedenen geistigen Ebenen ab (S. 266): Vermuten ist nur der Anfangsprozess – und der sagt mehr über das Innenleben der agierenden Person aus als darüber, worauf sie (meist unnötigerweise) reagiert.

Der hochgeschätzte und leider bei einem Brand sehr tragisch verstorbene Wiener Sozialpsychiater und Psychoanalytiker Hans Strotzka (1917–1994) sagte einmal bei einem Vortrag im Wiener BSA, wenn er eine übergewichtige Frau verstehen wolle, müsse er sie analysieren – wenn er ihr helfen wolle, schicke er sie zu den Weight Watchers.

Es braucht nicht die komplizierten Methoden der tiefenpsychologischen Psychotherapieschulen, um sich darum zu bemühen, jemand zu verstehen – aber es braucht echtes und vor allem wohlwollendes Interesse an der anderen Person. Wohlwollen bedeutet im Gegensatz zu Übelwollen Verzicht auf Machtspiele, und wenn es nur darum geht, über jemand anderen triumphieren zu wollen.

Leider bieten ehemalige Führungskräfte des Staates – wie auch diejenigen, die dies zu werden hoffen – seit längerer Zeit nur Vorbilder im Übelwollen – und das wirkt unterschwellig auch auf den Sprachgebrauch all derer, die ebenso aufgestaute Unterlegenheitsgefühle loswerden wollen. Gegenmodelle sind dringend erforderlich!