Zuerst eine Selbstoffenbarung: Ich halte schon viel davon, zurückzublicken. Erstens um Irrtümer oder Fehler zu erkennen und in Zukunft zu vermeiden; zweitens um sich an schöne Augenblicke zu erinnern, die gute Gefühle machen (weil sie ja die damals erworbenen Gedächtnisspuren wieder aktivieren); und drittens, um nicht zu vergessen, woher man gekommen ist und wie und was man daraus gemacht hat.

Was ich aber so gar nicht für gut halte, ist in der Vergangenheit zu wühlen – vor allem in der anderer Menschen, wie es augenblicklich scheinbar Mode geworden ist, oder? Waren es in den 1990er Jahren die sogenannten Reinkarnationstherapien (die natürlich keine Psychotherapie darstellen sondern nur ein Deutungsmuster psychischer Inhalte), in denen manche unglückliche Menschen Erklärungen für ihr schwieriges Leben suchten, so boomt derzeit die sogenannte Ahnenforschung (nicht die wissenschaftliche im Sinne von Wirklichkeit 1. Ordnung – der Summe aller Tatsachen, die sich objektiv feststellen lassen, sondern die hobbymäßig-private der Wirklichkeit 2. Ordnung, in der subjektiv Bedeutung und Sinn zugeschrieben wird, wie ich das auch in meinem letzten Buch „Von Recht und Seele“, Paul WATZLAWICK folgend – „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“, Piper  1976 – ausgeführt habe).

Über Inhalte der subjektiven Wirklichkeit 2 zu diskutieren, ist sinnlos, schreibt die Wiener Universitätslehrerin für Sprachgestaltung Elisabeth SCHRATTENHOLZER in ihrem Buch „Macht macht SPRACHE“ (LIT-Verlag 2015, S. 65): „Eine Meinung hängt also von den innerpsychischen Zuständen und Reaktionen eines Menschen ab, sei es als wertende Einschätzung von Tatsachen, sei es als Vermutung über Zukünftiges.“ Und ebenso Vergangenes, ergänze ich, und denke dabei an eine Bekannte, die sich in einer Reinkarnationstherapie als Ritter mordend und brandschatzend durch die Lande ziehen sah und daraus schloss, dass sie im gegenwärtigen Leben eben dieses Karma abarbeiten müsse; oder an eine andere, die aus der Tatsache, dass die erste – nicht blutsverwandte Ehefrau ihres Urgroßvaters exhumiert wurde, diesem möglicherweise einen Mord unterstellte und bibelgetreu – 2 Mose 34, 7, Gott „sucht die Missetat der Väter heim an Kind und Kindeskindern bis ins dritte und vierte Glied“ – auf Grund erlittener Ungerechtigkeiten sich selbst als letzte Schuldträgerin definierte … alles Äußerungen von Wirklichkeit 2. Ordnung, daher subjektiver „Glaube“.

Im Rahmen einer Psychotherapie versuche ich den „Benefit“ herauszufinden, weswegen jemand in unbeweisbaren Vergangenheiten Erklärungen subjektiver Erlebnisse sucht. Meist stoße ich dabei auf Gefühle der Machtlosigkeit gegenüber einer als übermächtig erlebten nahen Zukunft. Aber genau dieser gilt es „ins Auge zu blicken“ – das bedeutet für mich, die Wirklichkeit 1. Ordnung mit problemlösenden Alternativ-Fantasien der Wirklichkeit 2. Ordnung samt den dazu nötigen Mut-Gefühlen in Balance zu bringen. Wörtlich scherze ich dann oft: „Sie greifen doch auch nicht in die WC-Muschel und fischen nach der Scheiße von vergangener Woche …? Sie wissen doch ohnedies, was sie konsumiert haben und was daher drin ist?“