„Erst nachdem sie geduscht hatte, entschloss sich die 24jährige die Polizei zu rufen“ lese ich im heutigen Kurier über deren Vergewaltigung auf der Rolltreppe der U-Bahn-Station Neubaugasse, „Als die Frau zur Polizei kam, stand sie noch unter Schock und war nicht vernehmungsfähig“. Das Wort „entschloss“ passt nicht – es müsste heißen: „war sie fähig“.

Als ich in den 1990er Jahren laufend Schulungen zum Thema „Wahrheitsfindung nach Vergewaltigung“ für die Sicherheitsakademie des Innenministeriums abhielt, war mir wichtig, deutlich zu machen, dass die Bewältigung schockierende Erlebnisse in Phasen abläuft, die allerdings individuell unterschiedlich lang dauern können.

Die erste Phase ist immer Erstarrung: Da ist man „dissoziiert“, was bedeutet, dass Leib und Seele auseinandergefallen sind. Man funktioniert – aber nur automatisch, nicht bewusst. Deswegen sind beispielsweise Autofahrer nach schockierenden hoch Unfällen selbstgefährdet, weil sie agieren – z. B. herumlaufen – aber Gefahren nicht wahrnehmen. Vergewaltigungsopfer gehen etwa wie in Trance nach Hause. Dass sie duschen oder in die Badewanne steigen, ist ein übliches automatisches aber auch nicht bewusstes „Reinigungs“-Geschehen.

Die zweite Phase ist die des Nicht-wahrhaben-Wollens. Hier werden leider oft Beweismittel vernichtet – und deswegen ist es so wichtig, dass Frauen, denen so etwas Schreckliches angetan wurde, sich so schnell wie möglich (also schon in Phase 1) Beistand von den Notruf-Frauen holen, denn die werden wohl wissen, worauf nun zu achten ist – vor allem das nächste Spital aufzusuchen, damit Verletzungen dokumentiert und die DNA des Täters festgestellt werden kann.

Die dritte Phase ist Depression – und die reicht von Kraftlosigkeit, Rückzug, Zwangsgedanken bis zu Selbstanklagen – was Gegnern oder „Besserwissern“ Anlass und Raum gibt, Täter zu entschuldigen „Es wird schon nicht so arg gewesen sein“ und latente Frauenfeindlichkeit „Was bleibt die auch nicht daheim?“ auszuleben.

Die vierte Phase nenne ich die „Rachephase“ – denn jetzt kehren die Selbstbehauptungskräfte zurück und die Wut – und meist auch erst die Bereitschaft, den/die Täter anzuklagen. Diese Phase kann oft auch erst nach Jahren beginnen – denn gerade bei Vergewaltigungen kommt es häufig zu überaus langem Schwanken zwischen Phase drei und Phase vier, denn oft wollen Angehörige „die Schande“ verhindern, dass man sich über die verletzte Person „das Maul zerreißt“.

Phase fünf wäre dann der „Neubeginn“: Das grausame Erleben wird als nur ein Teil der Gesamtbiographie integriert, der überlebt wurde – es hätte ja auch anders kommen können.

Wenn man diesen Bewältigungsmechanismus kennt, sieht man auch Fahrerflucht als Schockreaktion oder auch die Verzweiflungstaten nach Kündigungen etc. Das Gegenmittel besteht nicht in Schimpf und Schande sondern in Aufklärung, Beistand und Training: Mentaltraining ist Probehandeln und hilft, im Notfall nicht „kopflos“ Handlungen zu setzen, die dann bei Gericht von den gegnerischen Anwälten (denn das ist ja deren Job) gegen einen verwendet werden können. Dazu muss man aber auch mögliche Szenarien andenken, die man nicht für möglich hält – etwa eine Vergewaltigung auf einer Rolltreppe im öffentlichen Raum.