Es gibt Eigenschaften von denen jedermensch glaubt sie zu besitzen bzw. in die Tat umzusetzen. Respekt etwa: Wenn man jemanden, der einen überheblich abkanzelt, mit „Bitte behandeln Sie mich respektvoll“ zu mehr Selbstreflexion auffordert, folgt meist empörter Widerspruch „Aber das tue ich doch!“ und beweist damit, wie gerechtfertigt die ursprüngliche Höflichkeitsbitte war (wobei ich persönlich meine, Freundlichkeit würde genügen – denn Höflichkeit gehörte zur Unterwerfungs-Etikette von Königshöfen und die haben wir ja zumindest bei uns nicht mehr – wie sich an den Hasspostings gegen die aktuelle Regierung zeigt).

Ein anderes – fast schon „Modewort“ – lautet Empathie. Im aktuellen Profil 35/21 auf Seite 47 wird es sogar als „Gleitmittel“ für Entschuldigungsnotwendigkeiten bezeichnet – eine tiefergehende Begründung dafür fehlt hingegen; dafür gibt es aber bunt zusammengestellte Zitate, die jedoch nur aufzeigen sollen, was manche PsychotherapeutInnen als Zusammenhang zwischen „fehlender Fähigkeit zur Fehlereinsicht“ und „Narzissmus“ als „Charaktersache“ verallgemeinern (Narzissmus – ein häufiger Vorwurf an Partnerpersonen, von denen deren KritikerInnen weniger Zuwendung erhalten als sie erwarten bzw. fordern – und öfters reziprok auf deren eigene „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ hinweist). Zu Unrecht, meine ich, denn in der konkreten psychotherapeutischen Arbeit zeigen sich hinter den als „Charakter“ diagnostizierten Verhaltensweisen oft schwerere Traumatisierungen als – wiederum diagnostiziertes – elterliches Versagen in prägenden Situationen.

Diagnosen sind kognitive Einschätzungen von Symptomen – und oft stammen sie mehr aus der sogenannten Fachliteratur, als aus eigener jahrelanger Erfahrung. Deswegen mahnte ja Albert Einstein, man könne Beobachtungen „nur am Beobachter“ feststellen – und deswegen wäre es wichtig, diese Subjektivität auch immer auszuweisen. Ich tue das jetzt, indem ich kritisiere, dass Empathie identisch mit Mitgefühl verwendet wird.

Ich habe nämlich in den gut 45 Jahren helfender Berufstätigkeit folgendes entdeckt: Abgesehen von phrasenhaften Mitgefühls-, z. B. Beileidsbekundungen, erweist sich Mitgefühl – wenn sich also die beobachtende Person in die ihr Mitgefühl aussprechende Person emotional einfühlt, nicht nur eindenkt! – vor allem als intellektuelles Verstehen der Reaktionsweise eines anderen: Dann ist das beim Anderen Erlebte aus der eigenen Biographie vertraut – d. h. man „kennt“ das von sich selbst, und das bedeutet, dass man bei sich selbst ist (bleibt), aber nicht beim Anderen (und das ist auch ganz OK, wenn man sich von Gefühlsüberflutungen oder auch Manipulationsversuchen schützen will).

Empathie hingegen ist viel mehr als der Impuls bzw. die Bereitschaft, „Mitgefühl auszudrücken“. Sie bedeutet, dass man zulassen und aushalten kann, die emotionalen Bewegungen und Gefühle einer anderen Person in sich selbst zu spüren, wie schmerzlich oder beängstigend oder abstoßend diese auch sein mögen.

Empathie ist eines der wesentlichen Heil-Mittel in helfenden Berufen, wenn jemand darüber verfügt – bei klientenzentrierten bzw. personzentrierten PsychotherapeutInnen (Ausbildungen nach Carl R. Rogers) gilt es als Voraussetzung, aber es gibt auch „Naturbegabungen“. Diese konnten sich diese Form von Offenheit und Bereitschaft zur Betroffenheit im Austausch mit echt empathischen (also nicht nur sentimentalen) Bezugspersonen „einspiegeln“ (vgl. mein Buch „Mit Recht und Seele“, S. 56 ff – bei mir erhältlich).

Ich nenne es den „Fluch des Kreuzworträtsels“, wenn Wörter mit ungleicher Bedeutung gleichgesetzt werden. Ich benütze dazu im Unterricht oder Training als Beispiel „anderes Wort für Wut mit vier Buchstaben“, und gesucht wird entweder Zorn oder Rage. Aber Wut ist eine auf niemand gerichtete Unmutsäußerung, während Zorn sehr wohl gegen jemand Bestimmten gerichtet ist, und Rage ist so blindwütig, dass sie jede Person attackiert, auf die man eben trifft, und das können viele Unbekannte („Unschuldige“) sein.

Empathisch werden solche Unterschiede deutlich „gespürt“ – ohne sich davon „anstecken“ zu lassen – und die andere Person spürt diese Wechselwirkung ebenso und kann sich dadurch „angenommen“ und verstanden fühlen. Aber genau das wird den meisten Menschen in unserer gegenwärtigen Konkurrenzgesellschaft verweigert.