Halt! Gewalt!

Wieder hat eine Mutter ihr Kind getötet und vermutlich werden wieder viele fragen, wie so etwas geschehen kann – ob da eine psychische Krankheit vorliegt oder eine Verzweiflungstat, möglicherweise in Zusammenhang mit einer Trennung vom Partner.

Ich beschränke mich auf die Einschätzung: Psychische Ausnahmesituation – denn vermutlich werden sich die auslösenden Faktoren nur bruchstückshaft (wenn überhaupt) eruieren lassen. Was sich aber sagen lässt, ist: Vielen Menschen geht in hohen Erregungssituationen die Selbstwahrnehmung verloren – sie merken nicht, dass sie dabei sind, ihre „Fassung zu verlieren“. Das ist etwas anderes als der Zustand, die eigene Erregung „gefasst“ wahrzunehmen und die daraus folgenden Handlungsimpulse, und sich dann eventuell blitzartig zu „entscheiden“, dem Impuls nachzugeben.

Wir wissen dank der computergestützten Gehirnforschung (d. h. seit Ende des vorigen bzw. Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts), dass zwischen dem Feuern der Wahrnehmungsneurone (z. B. „Ich halte das … nicht aus!“ oder „Ich lasse mir das … nicht gefallen!“ etc.) und dem Feuern der Handlungsneurone („Ich mache mit allem Schluss!“ oder „Ich setze dir eine deutliche Grenze!“) eine urwinzige Zeitlücke besteht. Diese wahrzunehmen gilt es einzuüben – aber dazu braucht man erst wieder ein dazu passendes Wahrnehmungsneuron. Wenn man noch keine derartigen Wahrnehmungsnervenzellen besitzt, kann man nicht „bewusst“ – also im „inneren Dialog“ wahrnehmen. Wenn das jemand bereits gelernt (d. h. solche Wahrnehmungsnervenzellen entwickelt) hat, spricht ihm oder ihr der Volksmund meist „einen langen Atem“ zu – was aber nicht heißt, dass diese Person damit untätig bleibt. Ganz im Gegenteil wird sie in Windeseile entscheiden, ob sie ihrem Impuls nachgibt und warum – oder eben nicht. Und sie wird dafür – hoffentlich – die Verantwortung übernehmen. Unzurechnungsfähigkeit bedeutet im Gegensatz dazu, dass die Person das nicht kann – und dann wird vielleicht ein psychotischer Schub oder eine bislang nicht erkannte psychische Krankheit angenommen bzw. nachgewiesen.

Das eigene Kind zu töten kann aber auch als Motiv haben, den anderen Elternteil so tief wie nur möglich zu verletzen. Man zerstört dasjenige, was der andere „mehr liebt“ als einen selbst. Manche werfen das geliebte Haustier aus einem hoch gelegenen Fenster. Oder ruinieren das Auto der Eltern. Oder irgendeine andere Kostbarkeit, die man als „Rivalen“, als „Dieb“ von Aufmerksamkeit und Zuwendung erlebt. Kain tötete seinen Bruder Abel, weil er nicht ertragen wollte, dass dessen Brandopfer mehr geschätzt wird als seines.

Es gibt klarerweise noch andere Motive, weswegen getötet wird. Manche sind Selbsttäuschungen über vermeintliche Ausweglosigkeit. Viele aber bestehen in mangelnder Wahrnehmung der augenblicklichen psychischen Veränderung. Ich erinnere mich, in meiner Kindheit einige Male Zeugin von Raufereien unter Männern geworden zu sein, in denen einer der beiden den Umstehenden zurief „Halt’s mich z’rück!“ Das zeigt den Ansatz von Selbstwahrnehmung – und spricht denjenigen, die nicht reagieren, Mitschuld an den Folgen zu.

Was mich so sehr erschreckt und auch tieftraurig macht, ist der Mangel an Vertrauen bzw. vertrauenswürdigen Personen, um Hilfe einzufordern. Ich denke, dass dies von klein auf eingeübt gehört: Zu wissen, dass es keine Schande ist, in Schwäche und Hilflosigkeit abzustürzen und dann um Hilfe zu rufen oder Hilfe zu suchen, und dass das Fehlverhalten bei denjenigen liegt, die das nicht wahrnehmen bzw. nicht helfen.

Krisenintervention sollte nicht bloß Fachwissen von Fachpersonen sein (die ja auch gelegentlich hilfsbedürftig sind), sondern humanitäres Allgemeinwissen. Ich schlage vor, es im Biologieunterricht einzubauen.