Als ich in den 1970er Jahren, kurz nach meiner Übersiedlung in den zehnten Wiener Gemeindebezirk, urplötzlich – weil ohne mich zu fragen – zur Favoritner Kommunalpolitikerin gewählt wurde, hörte ich viel Lobenswertes über die dort befindliche Neulandschule. Vorher hatte ich nie was von ihr gehört. Gesehen habe ich sie nie.

Heute Nacht habe ich den autobiographischen Roman „Fromme Begierden“ von Michael Amon (1954–2018) ausgelesen, der sich in zwei Säcken voll von alten Büchern befand, die mir eine Freundin vor einer Woche weitergeschenkt hatte, und war entsetzt, was der Autor von seinen Schuljahren im Internat der „Neuländer“ berichtet. Zwei Männer und eine Frau waren es, die sich als Muster „Schwarzer Pädagogik“ hervortaten, während die übrigen blind waren oder wegsahen. Er schreibt von einem: „Das Wissen um die Eigenheiten eines Menschen diente ihm lediglich zur Vervollkommnung seiner Terrormethoden. Er war ein Sadist. Das war sein Gewerbe. Wenn er strafte, ging es nie um Erziehung, sondern um Macht und Genuß an der Macht. Er hätte uns nie moralisch abqualifiziert, Moral war nicht sein Metier, es genügte ihm, unser Folterknecht zu sein. Aus uns bessere Menschen zu machen, war niemals sein Ziel. Im Gegenteil. Wirklich brave, folgsame Zöglinge, die nichts anstellten, keine Angriffsfläche boten, die wären ihm gar nicht recht gewesen. Da hätte er sich nicht ausleben können. Seine Erziehungsmaßnahmen hatten vielmehr das Ziel, uns zu neurotisieren, anfälliger und empfindlicher zu machen, damit uns seine Quälereien umso genauer trafen, wodurch er noch mehr Spaß hatte.“ (Seite 167 f.) Aber auch bei mir tauchten Erinnerungen auf: Im Sommer 1955 (in den Ferien zwischen erster und zweiter Klasse Mittelschule, wie die AHS damals hieß) musste – „durfte“ – ich einen Monat „zur Erholung“ in ein Ferienheim der Kinderfreunde am Attersee und habe dort ebenso miterlebt, wie andere Kinder die zweimal die Woche servierten Paradeissuppen und -soßen erbrachen und das Erbrochene wieder aufschlecken mussten. (Damals war nicht bekannt, dass manche Menschen den Farbstoff in rotem Gemüse oder Obst nicht vertragen – aber das ist keinesfalls eine Entschuldigung.)

Damals … damals kam auch niemand auf die Idee, dass Kinder, die von zu Hause „ausrissen“, vielleicht vor Gewalt flüchten wollten. Mir ist auch erst in den 1980er Jahren durch ähnliche Berichte meiner Klientinnen bewusst geworden, was mir meine damals (in den 1950er Jahren) beste Freundin, Tochter eines regionalen ÖBB-Managers, die ihre Bahnbegünstigung immer wieder nutzte, um möglichst weit weg von daheim zu gelangen, erzählt hatte: Wie sehr es sie ekle, dass ihr ihr Vater immer Zungenküsse gäbe … und dass sie mir vielleicht mehr erzählen wollte, ich aber nicht „verständig“ genug – weil unwissend – reagiert hatte.

Im heutigen Standard (24.12.2019, Seite 12) heißt es (Titel): „Missbrauchsopfer sollen sich länger wehren können“ — fordert nämlich ein Opferanwalt, und konkret Verlängerung der Verjährungsfristen (derzeit drei Jahre ab Kenntnis des Schadens und des Schädigers bzw. Volljährigkeit, 30 Jahre absolut). Das ist zu unterstützen, wenn es darum geht, dass von Verantwortlichen Verantwortung eingefordert werden kann (und auch muss). Nur: Die Angst, die Ohnmacht, die Wut – all das, was sich damals in den Körperzellen verewigt hat, werden die Betroffenen kaum durch Ent-schäd-igungen los werden. Man muss sie dazu aus-drücken – im gesprochenen Wort oder eben im geschriebenen, und es braucht aufmerksame und akzeptierende Menschen, die es aushalten, mitzufühlen.