„Warum ist hier die Festnahme & Verurteilung ,schockierend‘, nicht aber der Missbrauch selbst???“ schreibt mir ein Mann, und fragt, „Wer hat da hier bei der Formulierung so danebengegriffen – der Vatikan, oder die Medien?“ und mailt mir gleich die Meldung dazu, auf die er sich bezieht:

https://religion.orf.at/stories/2967216/

> Der vatikanische Staatssekretär, Kardinal Pietro Parolin, hat die
> Verurteilung und die Festnahme des Kurienkardinals George Pell in
> Australien wegen sexuellen Missbrauchs bzw. sexueller Belästigung
> zweier Kinder als „schmerzhaft und schockierend“ bezeichnet.

Ähnlich habe auch ich (s. Antigewaltbrief Nr. 15) empfunden … und doch ist in diesen Reaktionen, egal ob von vatikanischen Funktionären oder Laien, noch ein anderes Motiv versteckt – das Grundmotiv jeden Missbrauchs: Dass manche Menschen glauben, sie wären so etwas Besonderes, dass man sie nicht kritisieren oder überhaupt in Frage stellen darf. Darin verpackt ist ein beanspruchter “Größenunterschied“: Kinder „müssen“ Erwachsenen gehorchen, weil sie klein sind – und wenn sie das oft genug gehört haben (und mit Strafen bedroht wurden), glauben sie es auch für jede Situation, egal wie schädlich sie für sie sein mag.

Ist die Lektion gut „gelernt“, bleibt sie auch im Erwachsenen – nur sind dann die „Großen“ diejenigen, die mehr Geld, mehr Wissen, mehr Macht, mehr Ansehen haben. Der Psychoanalytiker Johannes Cremerius schrieb in seiner Abhandlung „Die psychoanalytische Behandlung der Reichen und Mächtigen“, solche Menschen lebten in einem „Freiraum der Gesellschaft, in den die üblichen Regulative und Kontrollinstanzen nicht hineinreichen“, und „die Befriedigung nicht erlaubter oder verbotener Impulse erzeugt keine Angst, weil keine realen äußeren Strafinstanzen existieren – wenigstens so lange nicht, wie er sich auf dem Grad jener Illegalität bewegt, den die Gesetzgebung nicht erfasst (white-collar-Kriminalität). Der Angstpegel hängt also nur noch von den internalisierten Instanzen ab.“

Diese „internalisierten Instanzen“ kennen wir unter Bezeichnungen wie Gewissen oder Über-Ich bzw. „verinnerlichte Eltern-Instanz“ – aber viele, die sich Väter nennen lassen, fördern nur sich selbst und nicht die ihnen Anvertrauten. Sie beanspruchen Herrschaft um jeden Preis – einer der Gründe der Bauernaufstände, der Französischen Revolution etc. und der Abschaffung von „Adel“.

Der Skandal um den Marquis de Sade (1740–1814) wurzelte weniger darin, dass er eine einfache Frau, die geglaubt hatte, er wolle sie als Putzfrau engagieren,  zu grausamen sexuellen Praktiken zwang, sondern dass eine Bürgerliche wagte, einen Adeligen vor den Richter zu bringen.

„An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ heißt es in Matthäus 7, 16. – am Handeln, nicht an Versprechungen oder Gelöbnissen.