Als „Mythen des Alltags“ bezeichnete der französische Philosoph Roland Barthes (1915–1980) die Verwechslung von „Geschichten“ (die irgendjemand einmal in Umlauf gesetzt hat) mit „Natur“. Er schrieb in seinem gleichnamigen Buch, er wolle „in der dekorativen Darlegung dessen, was sich von selbst versteht, den ideologischen Missbrauch aufspüren, der sich seiner Ansicht nach dahinter verbirgt.“ (Suhrkamp 1964, S. 7)

Derzeit geistert solch ein Mythos unreflektiert durch den Alltag – der Mythos vom psychischen Leiden am social distancing. Völlig unreflektiert wird er übernommen und als angeblicher „Teil der menschlichen Natur“ multipliziert – leider auch von PsychologInnen und BiologInnen, die offenbar wenig Erfahrung mit Kindern wie auch Erwachsenen haben.

Was stimmt und von dem österreichischen Arzt und Psychoanalytiker René Spitz (1887–1974) entdeckt wurde, ist, dass Säuglinge (!) ohne liebevolle psychische (!) Zuwendung dahinsiechten, auch wenn sie körperlich perfekt versorgt wurden. Auch Erwachsene brauchen positive „Energaben“ (Copyright Herbert Pietschmann, emer. Professor für theoret. Physik der Universität Wien) wie Wahrgenommen-Werden, sozialen Respons, Anerkennung, also fördernde psychische Reaktionen von anderen. Was sie aber nicht brauchen, sind physische Berührungen – außer sie sind in einer Liebesbeziehung und sehnen sich nach psychischer (und körperlicher) Verschmelzung, oder sie sind in einem „Energievakuum“ (z. B. nach einem Akuttrauma oder im Sterben) und regredieren auf frühe Kindheitserfahrungen, dann benötigen viele nicht nur psychischen Beistand sondern auch körperliche Nähe wie Babys (und werden dabei erfahrungsgemäß leider oft sexuell missbraucht).

Viel Frauen kennen die unerwünschten „Ankörperungen“ übergriffiger Männer (oder auch älterer Frauen), die ihre Hände nicht unter Kontrolle halten können oder wollen; die amerikanische Psychologieprofessorin Nancy M. Henley (1934–2016) hat in ihrem Buch „Körperstrategien“ anhand vieler Beispiele die dahinter liegenden Absichten –  Macht auszuüben – enttarnt.

Eine Krisensituation ist jedoch nicht von vornherein ein Trauma (s. mein Buch „Komme was da wolle – Krisenkompetenz“ ) – aber sie kann sich durch hysterisierende Verwandte, Nachbarn oder auch halbgebildete Influencer zu einer Angststörung auswachsen – und da sind Kinder besonders gefährdet. Viele durchaus wohlmeinende Menschen glauben, dass Warnungen genügen, um Unheil zu vermeiden. Nur: Durch Warnungen lernt man nichts – außer Angst vor dem Unbekannten.

Man lernt durch passende Vorbilder, Erklärung, Anleitung und Übung.

Sobald das Kleinkind seine Muskulatur beherrscht, lernt es den Kopf wegzudrehen bei Zwangs-Kuss-Versuchen oder unerwünschte Hände wegzuschieben – wenn man das gestattet. Vorher greinen oder brüllen sie nur – oder erstarren mit gespreizten Fingerchen und Zehen. Denn es sind die berührungshungrigen Erwachsenen, die sich „am Kind bedienen“. Ich habe das im Kapitel „Seelenmord – Seelenfrieden“ in meinem Buch „Tabuthema kindliche Erotik“ ausführlich beschrieben.

Und genau diese Erwachsenen protestieren jetzt, weil zwei Expertinnen über www.feelfri.at das von ihnen erfundene Armband bewerben,  das aufleuchtet und vibriert, wenn jemand in den Nahbereich eintritt – und da geht es vor allem um Kinder, denn Jugendliche und Erwachsene sollten bereits die „persönliche“ (durchschnittliche Armlänge) von der geringeren intimen und der grösseren gesellschaftlichen Distanz (Proxemik (stangl.eu)) unterscheiden können.

Zum Erwachsenwerden gehört, kindliche Bedürfnisse – die wir alle gelegentlich haben – als solche zu erkennen und alternatives Verhalten zu finden bzw. zu erfinden, beispielsweise:

  • Was hilft, bislang ungewohntes Alleinsein zu genießen?
  • Oder anders formuliert: Unabhängig zu werden von jemand, der einen unterhält bzw. beschäftigt? (Denn: Alleinsein nicht zu ertragen gehört zur Borderline-Symptomatik.)
  • Und: Wie beginnt man den seelischen Energieaustausch ohne sich zu prostituieren?
  • Und wie grenzt man sich ab, wenn jemand Freundlichkeit mit Einladung zur Selbstbedienung verwechselt?

Meine Seminare dazu www.salutogenese.or.at unter Akademie / Themen.