Da kritisiert Birgit Braunrath im Kurier (10. 10., Seite 1) die „erbärmlichen Signale“ einer Politik, „in der darum gerittert wird, wem die größte Opferrolle zufällt“. Also „ritterlich“ empfinde ich diese Konkurrenz keineswegs – die Wortwahl ist doch recht unglücklich gewählt – aber was mich stört, ist der Begriff „Opferrolle“. Er verschleiert nämlich, dass nur eine Person – Außenminister Kurz – derzeit übrigens auch Vorsitzender der OECD! – und zwar gezielt als Person! – zum Opfer von Verspottungen und Verleumdungen gemacht wurde. Dass im Schuldvertauschungsagieren (ein forensischer Fachbegriff für die Strategie „Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuld“) Täter Retourkutschen zu bauen versuchen, ist leicht erkennbar und üblicherweise schon aus der Vorschulzeit bekannt.

Auf der Gegenseite der zerbrochenen Koalition hingegen gibt es nur ein „Opfer“: Georg Niedermühlbichler. Er hat sich selbst „geopfert“.

Liest man in Wikipedia nach, findet man unter Opfer zwei Erklärungen: 1. Etwas, das man hergibt oder auf das man verzichtet, auch wenn es sehr schwer fällt, und 2. Etwas, das man einer Gottheit darbringt. Auf Niedermühlbichler trifft wohl beides zu: Er hat seinen Spitzenjob als Bundesgeschäftsführer (zur Zeit meiner Mandatarschaft hieß es noch Zentralsekretär – aber das klang den späteren Parteivorsitzenden vermutlich zu sehr nach Ostblock) hergegeben – und er tat dies für die Gottheit Partei. (Ähnliches findet sich in meinem Buch „Heilkraft Humor“: Dort habe ich als Beispiel für eine gelungene Parodie die seinerzeitige Umdichtung der Gralserzählung aus Richard Wagners „Lohengrin“ auf die Zustände im Kreml und in der KPdSU zitiert. Gesungen wurde dieses Couplet übrigens von Helmut Qualtinger.)

„Der letzte Sinn jedes Opfers“, schreibt die Dozentin am C. G. Jung-Institut Ingeborg Clarus in ihrem Buch „Das Opfer“, „das seinen Namen verdient, ist die Wandlung“. Ein Opfer kommt zu Tode. Deswegen wird ja in der sozialtherapeutischen Fachsprache versucht, Menschen, die missbraucht, d. h. verdinglicht, zum Objekt gemacht wurden, als „Überlebende“ zu bezeichnen und nicht als Opfer. Aber eigentlich stirbt ja doch immer auch die vorherige Identität – also passt Opfer in diesem Sinn auch: Man ist nachher jemand anderer als vorher.

Aber hat sich Georg Niedermühlbichler im Zuge des Dirty Campaigning gewandelt? Oder seine Partei? Vermutlich nicht – denn nur ein bisschen Versäumnisse zuzugeben, ist keine Wandlung (so wie man auch nicht nur ein bisschen schwanger sein kann), und proklamativ Verantwortung übernehmen auch nicht, denn die hat man sowieso – auch wenn man sie bisher ignoriert haben sollte.

Die Tiefenpsychologin Clarus zitiert in ihrem Buch unter anderem den Helden Herakles, der unter anderen bei seinen „Zwölf  Taten“ als Knecht den Augias-Stall ausmisten soll, „aus dem er nicht enden wollende Mengen an Mist zu entfernen hatte“. Sie schreibt dazu: „Aber Herakles packte ganz selbstverständlich den Mist dieser Welt an, ohne lange nach seiner Identität als Gottessohn zu fragen, und ohne um seine letztlich schon beschlossene Aufnahme in den Olymp der Götter zu wissen.“

Alles klar?