Rotraud A. Perner

Den Schmerz ertragen

Gedanken zu Karfreitag 2022

 

Konzept Eröffnungsvortrag am 15. 4. 2022 zu „Stabat mater“ von Vivaldi im Auditorium Grafenegg

 

Zuerst möchte ich mich für die Einladung bedanken, nicht nur als Psychoanalytikerin wie auch evangelische Theologin und Pfarrerin (ja – das verträgt sich!) und ursprünglich Juristin, sondern vor allem als mit Maria (auf deren Namen ich u. a. auch getauft wurde) mitfühlende Mutter von Söhnen diese soeben zitierten unterschiedlichen fachlichen Sichtweisen darstellen zu dürfen.

 Das vermutlich im 13. Jahrhundert entstandene liturgische Gedicht „Stabat mater“ (von mir ungereimt übersetzt) „Es stand die Mutter“ – „dolorosa“ – „voller Schmerzen“ – „iuxta crucem lacrimosa …“ – „dicht beim Kreuze tränenreich“ – „dum pendebat filius“ – „da der Sohn hing“, gehört zu den Texten wie auch Bildern, denen in der Zeit des 14. bis 16. Jahrhunderts Heilwirkung zugesprochen wurde. Das sehe ich auch so – und weshalb, möchte ich hier erklären.

Denken wir zuerst an die wohl berühmteste Darstellung des Leidens der Mutter Jesu im Angesicht der Hinrichtung ihres Sohnes im beherrschenden Bild der sogenannten „Alltagsseite[1] des Isenheimer Altars – eines Seuchenaltars – von Matthias Grünewald (vulgo Mathis Got(t)hardt Neithardt oder Matthaeus von Aschaffenburg, geboren um 1470, gestorben 1528): Leichenblass scheint Maria gleich das Bewusstsein zu verlieren und wird von Johannes gehalten, um nicht zu Boden zu stürzen. Das ist der Zustand im Unerträglichen: kleinste Kinder fallen einfach um und schlafen ein, wenn ihnen etwas zu viel wird – Erwachsene halten sich fest, setzen sich nieder oder aber verlieren das Bewusstsein – außer sie entscheiden sich zu protestieren, zu schreien, zu jammern – so wie Maria Magdalena, die auf dem Altarbild vor dem Kreuz kniet.

Die Mutter Jesu aber schreit nicht – sie seufzt nicht einmal. Sie hält die Lippen geschlossen.  

Sie erträgt.

Sie atmet nach innen.

Karl-Heinz Menzen (* 1942), Gastprofessor für Kunsttherapie an der Wiener Sigmund Freud Privatuniversität,[2] schreibt, „in damaliger Auffassung waren Meditationsbilder wie die Grünewalds „quasi medicina“, also im heutigen Sprachgebrauch Heilmittel, von denen Heilung und Gesundung ausgehen konnten, wenn der Betrachter sich in das Leben Jesu oder hier des hl. Antonius versenke, sich mit deren Leiden identifizierend.“[3] – eine gleichsam homöopathische (Gleiches mit Gleichem) Heilmethode.

Identifikation und Mitgefühl

Im Isenheimer Altar gibt es neben der Verkündigung der verlegen lächelnden Maria auch eine Darstellung der voll Liebe strahlenden „Maria mit dem Kinde“. Damit können sich viele Eltern, Großeltern oder Wohlmeinende gut identifizieren: Wer möchte nicht gerne am Glück Anderer mitnaschen?

Jedoch nicht allen fällt es ein oder gar leicht, sich mit diesen positiven Vor-Bildern zu identifizieren, obwohl auch dies Heilwirkung hätte: Die zärtliche Zuwendung zu dem Kleinen, Hilflosen, Hilfsbedürftigen, Pflege- und Schutzbedürftigen ist etwas, das viele Menschen ein Leben lang nährt und stärkt, wenn sie diese – und wenn  auch nur wenige Male – erlebt  haben, oder andernfalls unbewusst ersehnen, denn in diesen Fällen spürt man das Herz sich weiten; es verengt sich aber, wenn sie diese Reaktion in unbewusstem Neid als Sentimentalität abgelehnt oder gar verboten wird (wie es vermutlich Judas Iskariot tat).

Man bräuchte einfach nur sein Herz zu öffnen und mit-zu-fühlen. (Heute – seit Mitte der 1990er Jahre – wissen wir durch die Entdeckung der Spiegelnervenzellen dank der bildgebenden Verfahren in der Gehirnforschung, wie genau das abläuft und können es auf dem Bildschirm sichtbar machen.)

Bei totaler Identifikation hingegen droht Verlust der personalen Eigenständigkeit. (Auf psychiatrische Erläuterung verzichte ich, sie ist für das Vorbild Maria unerheblich.)

Demgegenüber lade ich ein, in der Wortwahl von Mitgefühl und Identifikation nach der Sinngebung zu unterscheiden:

Im Mitfühlen, in der Empathie, spürt man „am eigenen Leib“, wie es jemand Anderem geht und bleibt dennoch man selbst, in der Identifikation (Stichwort „Helfersyndrom“: man gibt Anderen, was man selbst bräuchte) übernimmt man einiges, viel oder manchmal auch alles von jemand Anderem – denken Sie an die Kunst der Darsteller:innen auf Bühne oder Filmset – und steht dann vor der Herausforderung der bewussten Ab- bzw. Ausgrenzungen bzw. Rückkehr zu dem eigentlichen Selbst.

Maria fühlt mit – und sie erreicht damit die Grenze des Erträglichen. Aber sie erträgt. Würde sie sich identifizieren, würde sie eine Selbstverletzung wählen oder eine Verschiebungs-Handlung.

Herzöffnung

Das Unerträgliche ertragen zu können, hat mit „Herzöffnung“ zu tun.

Das Herz ist ein Muskel, daher ist es „flexibel“.

Wenn man liebt (was nicht dasselbe ist wie der Zustand der Verliebtheit oder des Begehrens), dehnt sich das Herz: es „weitet“ sich um all die Begeisterung und Beglückung aufzunehmen, die man von dem, was auch immer man liebt, empfängt … (sehr schön nachvollziehbar in der Arie „Sieh mein Herz erschließet sich“ in der Oper „Samson und Dalila“ von Camille Saint-Saens) … und irgendwann bildet sich dieses Hochgefühle wieder in den Alltagszustand zurück.

Aber wenn das, was geliebt wird, in Gefahr ist, wenn es geschädigt wird oder gar zu Tode kommt – und das kann nicht nur der Tod eines geliebten Menschen sein, sondern auch eines anderen „Schatzes“, eines Berufes aus Berufung etwa, oder, hochaktuell, der Heimat, „reißt es einem das Herz wieder auf“ – und dies ohne Schäden zu überleben – psychisch, geistig, aber manchmal sogar körperlich – braucht helfende Bedingungen, Beistand – so wie ihn Maria von Johannes erlebtoder Vor-Bilder.

Wer schon einmal in solch einer Situation war, in der man glaubte, das Leben nicht mehr ertragen zu können, weiß wie es sich anfühlt, wenn es „einem den Boden unter den Füßen wegzieht“, und wenn man diese Situation „überlebt“ hat, weiß man rückblickend, dass und wie man dann Halt gebraucht und bekommen hat – von außen oder aber von innen.

Außen, das ist Solidargemeinschaft, aber deren „Geist“ kann auch im „Spirit“, in der „Seele“ der Natur, manche Tiere inbegriffen, oder Kunst (Mitgefühl und Ausdruckskraft begnadeter Künstler:innen) sein – und da besonders in der Musik – in der nämlich, die einem „das Herz weit macht“, sei es aus Liebe oder aus Trauer: Man trauert nur echt, wenn man echt geliebt hat – sonst ist es nur Selbstdarstellung, Pflichterfüllung – oder camouflierte Angst oder Wut.

Man muss Liebe, Schmerz und Trauer selbst gefühlt haben, um sie in Klang umzusetzen – den der Instrumente oder den der Stimme. Deswegen haben sich ja auch so viele große Komponisten der Vertonung der Verse des „Stabat mater“ gewidmet – nicht nur Pergolesi oder Vivaldi, sondern auch Haydn, Schubert, Rossini, Liszt, Dvorak, Verdi oder Penderecki und viele mehr.

Innen – das umfasst das „selbst gefühlt haben“, doch dazu gehört auch, nicht nur dem schnellen Impuls und schnellen Beseitigungs-Handeln nachzugeben, sondern der bewussten autosuggestiven Aufforderung zur Verlangsamung – zur Entschleunigung, wie sie beim Betrachten oder Zuhören entsteht und mit ihr die „Dehnung“ des Herzens.

Auf Schmerz folgt ja zumeist eine spontane schnelle Zusammenkrampfung: Man reagiert mit Angst (vom lateinischen angustus, eng) und verkleinert instinktiv die Angriffsfläche des Körpers: Man nimmt die Schultern hoch und nach vorn und schützt damit den verletzlichen Oberkörper und – man hält den Atem an. Der Feind soll einen ja nicht hören. Damit wird aber der Zustand der Angst und des Still-Haltens verlängert und außerdem die Herzdurchblutung vermindert und damit der Organismus geschädigt.

Diese Herzverengung kann aber auch entstehen, wenn sich jemand zwanghaft vor Gefühlen, daher auch Mitgefühl, schützen will – wie der Pharao, dessen „verstocktes“ d. h. verkrampftes Herz erst nach dem Tod seines Erstgeborenen „aufbricht“ (2 Mose 7, 10 und 29 – 32).

Ins Herz hineinzuatmen – oder dorthin, wo der Schmerz sitzt und zu wachsen scheint – hilft, ihn zu ertragen, wenn auch die Gefahr der Hyperventilation zu Bewusstseinsverlust, Ohnmacht führen kann. Deswegen war es auch so sensationell, als mit den Anleitungen zur sogenannten „sanften Geburt“ Frauen vermittelt wurde, wie sie mit Hilfe des gezielten verlangsamten Atems ihr Schmerzerleben vermindern können – körperlich.

Was hingegen zu wenig vermittelt wird, ist die Wirkkraft des Atems zur Bewältigung von Schmerz und Leid.

Akzeptanz

Maria – wie auch Johannes – halten in der Kreuzigungsszene des Isenheimer Altars die Lippen geschlossen, und beider ruhige Körperhaltung lässt vermuten, dass sich ihre Atmung verlangsamt haben: Maria atmet ein – „contemplari“ heißt es im Gedicht – „ohn alles Klagen“ übersetzte Herinrich Bone 1847 – und akzeptiert damit das Unvermeidliche, und gleichzeitig gleitet sie in den heilsamen Trancezustand, dem sie sich anvertrauen kann, weil sie nicht allein ist.

Akzeptanz ist eine der Stärken Marias.

Schon im Lobgesang Marias bei der Verkündigung („Magnificat“, Lk, 1, 46 – 47 und 51 – 52) wird die Seelen- wie Geisteshaltung Marias deutlich: Vertrauen und Hingabe, auch wenn die Zukunft offen ist, komme was da wolle, „ein Liebes oder Leides“, wie es in dem Gedicht „Herr! Schicke was du willt“ des evangelischen Pfarrers und später Literaturprofessors Eduard Mörike (1804 – 1875) heißt[4].

So gelingt Mutter sein: Vom Im-Körper-wachsen-spüren, gebären, reinigen, pflegen, trösten, spielen, lehren – und lernen, dem Kind das eigene Leben lassen. Auch wenn das dessen Lebensgefahr bedeutet.

Das ist wohl das Schwerste.

Karfreitag 2022: Wieder zittern in nächster Nähe viele Mütter um das Leben ihrer Kinder, wenn diese Ansichten oder Verhaltensweisen wagen, die „den Mächtigen“ missfallen (und das beginnt oft beim leiblichen Vater), wenn sie Protest wagen … oder aber sich trauen, sich der Staatsmacht zu entziehen – zu desertieren, fliehen, in den Untergrund gehen … aber  Mütter zittern ebenso, wenn sich ihre Söhne (und zunehmend auch Töchter) der staatlich oder ideologisch geforderten Wehrpflicht unterwerfen.

Auch Maria, hat wohl voll Sorge versucht, ihren Sohn Jesus von seiner Berufung abzuhalten (Mt 12,47 – 50[5]) – aber da war er schon auf seinem Weg und weg von dem ihren.

Immer wieder kommen Mütter zu mir in meine psychotherapeutische Praxis, die von Schuldgefühlen geplagt werden, weil ihre Söhne – kaum Töchter – nicht dem entsprechen, was Familie oder Gesellschaft als Produkt einer erfolgreichen Erziehung erwarten. Hin- und hergerissen zwischen „zentrifugaler“ Liebe des fälligen Los-Lassens und „zentripetaler“ geforderter Pflichterfüllung, das Kind der „Norm“ anzupassen, wagen viele Mütter als die noch immer allein prädestinierte Erziehungsverantwortliche nicht, der Liebe (ihrem Herzen) zu folgen – auch wenn das bedeutet, die Angst hinsichtlich möglicher Gefährdungen und Gefahren (nörgelnde Verantwortungs-abstinente Väter als Stressfaktor mitgemeint) zu ertragen. Beide – der    Norm nicht entsprechende – Mutter wie Kind, gelten dann als böse, verantwortungslos – Störfaktoren. In Diktaturen sind sie von den gleichen Repressalien bedroht wie Jesus – Verhaftung und Schläge, Folter, Haft oder gar Tod – auch wenn sie nur ihrem Gewissen folgen. Das Regime braucht Strafexempel.

Auch wenn diejenigen, die ihrem Gewissen – dem „höheren Gut“ – folgen, darin Selbstbestätigung und Selbstrechtfertigung finden – für liebende Mütter führt das zu einem unerträglichen Dilemma.

Die eigene Machtlosigkeit – nicht Hilflosigkeit (vgl. Mt 7/7[6]) – zu akzeptieren im Angesicht von Verrat, Infamie, gezielter Ungerechtigkeit und Vernichtungswillen fördert aber auch das Bewusstsein, dass dadurch die Täter ans Licht kommen und sich enttarnen. Wahrheit zu erkennen, bedeutet oft Schock – Wahrheit zu ertragen, bringt einen oft an die bisherigen eigenen Grenzen von sanfter Hingabe – aber genau das bedeutet seelisches Wachstum: zur eigenen Wahrheit zu stehen.

Die Philosophin Hannah Arendt (1906 – 1975) schreibt, „Was bei den wenigen uns bekannten Menschen, die ihr ganzes Leben dem ,Gutes-Tun‘ gewidmet haben, wie Jesus von Nazareth oder der Heilige Franziskus von Assisi, am offenkundigsten ist, ist sicher nicht Sanftmut, sondern eine überfließende Kraft, vielleicht nicht des Charakters, sondern schon ihrer Natur.“[7]

Wenn man nun aber Charakter als biographisch verfestigtes Verhalten interpretieren mag, kann sich daraus eine neue Natur entwickeln – ein Gleichgewicht von Erkennen der Realität und Balance von Widerstandskraft und -wille und Ertragen des Zeitlaufs bis zu einer -auch symbolischen – Wandlung und Auferstehung.



Literatur

Arendt Hannah, Über das Böse. Eine Vorlesung zu Fragen der Ethik. Piper Taschenbuchausgabe, München 2007/2114.

Matthias Grünewald, Der Isenheimer Altar. Eingeleitet und erläutert von Friedrich Piel. Deutsche Buch-Gemeinschaft C. A. Koch’s Verlag Nachf., Darmstadt 1960.

Luther Martin, Das Magnificat, verdeutscht und ausgelegt (1521). In: Martin Luther Werke II: Martin Luther Ausgewählte Schriften, herausgegeben von Karin Bornkamm und Gerhard Ebeling: Erneuerung von Frömmigkeit und Theologie, Insel Verlag, Frankfurt/ Main 1982.

Menzen Karl-Heinz, Heil-Kunst. Entwicklungsgeschichte der Kunsttherapie. Verlag Karl Alber, Freiburg München 2017.

Perner Rotraud A./ Perner Roman A., Komme was da wolle … Krisenkompetenz. Ein Beitrag zu Gewaltprävention, Resilienz und Salutogenese. edition roesner, Krems/ Donau 2020.

Perner Rotraud A.,  Lieben! Über das schönste Gefühl der Welt – Für Anfänger, Fortgeschrittene und Meister. Orac, Wien 2018.

Dorothy L. Sayers, Das größte Drama aller Zeiten. Theologischer Verlag Zürich, 1982.


Fußnoten

[1] „An gewöhnlichen Tagen des Jahres war der ,Wandelaltar‘ geschlossen“, schreibt Friedrich Piel (S. 7), „und der Gläubige sah sich der ,Kreuzigung‘ gegenüber. Diese sogenannten ,Alltagsseite‘ nimmt inhaltlich auf die besondere Stellung des Klosters als Spital Bezug. Antonius, Sebastian und die beiden Johannes wurden im Mittelalter bei Pest und anderen Seuchen angerufen.“ Deswegen sind diese christlichen Leitfiguren auch hier abgebildet.

[2] Karl-Heinz Menzen – Wikipedia

[3] K. – H. Menzen, Heil-Kunst, S. 21.

[4] Vgl. R. A. Perner, Komme was da wolle … Krisenkompetenz, S.  187.

[5] Mt 12,47: Jesu wahre Verwandte

46 Als er noch zu dem Volk redete, siehe, da standen seine Mutter und seine Brüder draußen, die wollten mit ihm reden.

47 Da sprach einer zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir reden.

48 Er antwortete aber und sprach zu dem, der es ihm ansagte: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder?

49 Und er streckte die Hand aus über seine Jünger und sprach: Siehe da, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder!

50 Denn wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.

[6] Mt 7/7: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.

[7] H. Arendt, S. 134.

Rotraud A. Perner

„Wie entscheiden wir uns, wenn wir uns entscheiden“

Skriptum der für 16. März 2020 geplanten Ethik-Vorlesung an der Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik, die wegen der Covid-19 Pandemie am 23. April 2020 über Video gehalten wurde.

Abstract:

Im dritten Jahrtausend mit seinem weltweiten Anspruch auf demokratische Entscheidungsstrukturen (Mitbestimmung in den Betrieben, Bürgerpartizipation, Staatenkooperation etc.) braucht es für die große Zahl der Entscheidungen weniger die  Bezugnahme auf die historischen Reflexionen von geistigen Eliten über ethische Grundwerte als den konkreten Rückblick auf die eigenen wie auch fremden Voraussetzungen und  Beweggründe.

Entscheidungen fallen zumeist entweder kognitiv (d. h. nach vorgegebenen Mustern) oder emotional (d. h. „spontan aus dem Bauch heraus“).  Um diese Impulse bereits im Vorhinein in verantwortliches Handeln überzuleiten, braucht es die Erforschung und Integration des individuellen wie auch kollektiven „Schattens“ (C. G. Jung) und diesbezüglich Achtsamkeit auf die eigene (gedankliche wie auch hörbare) suggestive Sprachwahl.

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Rotraud A. Perner

ALTER  UND  POTENZIALE – ein Widerspruch?

„Positionstext Dr. Rotraud A. Perner im Dialog mit DDr. Michael Landau am 9. Mai 2019 in der Denkwerkstatt St. Lambrecht“

„Es war einmal …“ Es war einmal eine Zeit, in der „die Alten“ geschätzt wurden, denn damals wussten die wenigsten zu schreiben oder zu lesen[1], von Internet und Suchmaschinen war noch lange keine Idee geschweigedenn Rede, daher war man auf das tradierte Wissen angewiesen, und das hatten (außer Priestern bzw. Schamanen[2])  die Alten – und auch die Zeit zum Erzählen. Sie waren lebende Lexika, wussten vielerlei Rezepte und Abhilfen und – sie waren damit Vorbilder für Unterstützung.

Heute wissen wir dank der computergestützten Gehirnforschung, dass und wie wir „in Beziehung“ lernen: wenn wir zusehen, werden die gleichen Gehirnareale aktiviert wie bei der beobachteten Person – egal, ob wir sie live erleben oder auf einem Bildschirm[3]. Hermann Meier hat so nach seinem schweren Motorradunfall bewusst seine sportlichen Fähigkeiten „mental“ trainiert. Viele Jugendliche trainieren hingegen durch zu viel Konsum von Action- oder Kriminalfilmen wie auch Videospielen unbewusst Gewalt oder kriminelle Potenziale. Zu diesen kriminellen Potenzialen gehört Gewalt gegen Schwächere – und dazu zählen meist Jüngere wie auch Ältere.

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Rotraud A. Perner[1]

SCHEITERN tun nur Schiffe

Über die Wirksamkeit von Worten

(Rekonstruktion eines in freier Rede gehaltenen Vortrags am 13. 4. 2019 in der evang. Pfarre Traiskirchen)

Im Wort „scheitern“ steht das Wort Scheit drinnen – also ein Stück abgespaltenes Holz wie etwa in Holzscheit, im Scheiterhaufen – oder symbolhaft in der gleichnamigen Speise. Es deutet an, dass das an ein Hindernis gestoßene Holzschiff körperlich in Scheiter zerbricht.

Wenn man dieses geistige Bild auf Menschen überträgt, die bekanntlich nicht in Scheiter zerbrechen können, wird der Mensch mit einer Sache – einem Schiff – gleichgesetzt. Er wird verdinglicht. Elisabeth Wehling (* 1983), eine derzeit in den USA lehrende und kürzlich auch in deutschen Fachkreisen berühmt gewordene Kognitionslinguistin, nennt dies „metaphoric framing“[2] – etwas mit einer Metapher „umrahmen“. Wenn man so wie ich bereits in den 1980er Jahren NLP (Neurolinguistisches Programmieren) gelernt hat, kennt man den Begriff des „Framens“: man „umrahmt“ etwas bewusst oder unbewusst (weil gewohnt) mit Worten, die geistige Bilder auslösen und in denen Bewertungen drinnen liegen. „Reframing“ ist dann eine Therapie- oder aber Manipulationsmethode, um die Bewertung und damit die Befindlichkeit von Leserschaft oder Zuhörerschaft zu verändern. (Beispiel: „Ihr Kind sehe ich nicht als schlampig an sondern als großzügig!“)

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… und wenn Nein, was ist sie dann?

Überlegungen zur Willensfreiheit

Seminararbeit von Dr. Rotraud A. Perner
WS 2014/15

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Rotraud A. Perner

 

… und bist du nicht willig …

… so brauch ich Gewalt, heißt es in Goethes Gedicht vom Heideröslein, das „der wilde Knabe“ brach.

Der Grad der Wildheit bildet dann auch den Unterschied, aus welchem Motiv jemand – meist männlich, seltener aber doch auch weiblich – die körperlichen, seelischen oder geistigen Grenzen einer anderen Person ignoriert, überschreitet, verletzt oder gar zerstört. Sexualisierung ist dabei nur eine thematische Färbung – und auch Machtbestätigung ist eine Projektion selbst machtbesessener Menschen. In Wirklichkeit geht es wahlweise aber auch kumulativ um Energiemangel, Selbstwertdimensionen und Verpflichtung zum Siegertum.

„Was darf man(n) denn nun noch?!“ hörte ich in den letzten Wochen so manchen kooperationswilligen Mann mit gequälter Stimmfärbung fragen. (Zu Gewalt neigende Männer mokieren sich, spotten, drohen und mobben. Das ist eine „Stufenleiter“ von Interventionen zur Schwächung des „Gegners“, diesmal weiblich, um die eigene Dominanz zu stärken. Sie kann sich auch Mann gegen Mann abspielen: Es war Cassius Clay, späterer Name Muhammad Ali, der als erster Boxer vor allem auch dadurch auffiel, dass er seine Kampfgegner vor Beginn der ersten Runde gezielt beschimpfte.)

Es lohnt sich, verschiedene Berufsblickwinkel zu differenzieren.

Aus juristischer Sicht

… zählt ein Quasi-Kodex des „gesunden Menschenverstands“ (bisher: Männerverstands) konkrete Handlungen auf, was als sexuelle Belästigung be- bzw. verurteilt und was als „harmlos“ qualifiziert wird. Dabei kann es zu so absurden Sichtweisen kommen, einen Griff aufs Gesäß nicht als sexuelle Handlung zu werten – wenn nämlich der urteilende Richter ignoriert, dass Hautsensibilität nicht nur auf Berührungsdruck, sondern bereits bei Annäherung an die „intime“ Körperdistanz – und nicht nur an erogene Zonen, die ja individuell unterschiedlich sein können – als angenehm oder unangenehm empfunden wird, jedenfalls aber Stress auslöst. (Allerdings gibt es auch Eu-Stress, der anregt, wenn manfrau „spielt“, während Dystress eindeutig Gesundheitsschädigung bewirkt.) Und es gibt Psychopathologien. Um die zu beurteilen, werden bei Gericht Sachverständige herangezogen – aber von denen hat niemand eine umfassende sexuologische Ausbildung; dazu gehört nämlich nicht nur psychologisches und psychotherapeutisches Fachwissen, sondern auch zumindest soziologisches, sozialpädagogisches, sozialtherapeutisches, sozialhistorisches und religionswissenschaftliches – und viel Erfahrung mit Betroffenen. Nur ein paar Fachbücher lesen, reicht nicht.

Was aber von forensisch-psychiatrischen Sachverständigen gut eingeschätzt werden kann, ist pathologische Distanzlosigkeit, wie sie bei manchen Gehirnschädigungen auftreten – und die können auch Folge chronischen Drogenmissbrauchs (Alkohol mitgemeint) sein.

Aus transaktionsanalytischer Sicht

… ist das Eindringen in diese „intime“ (im Gegensatz zur „sozialen“) Zone (bis auf Arm- oder Beinlänge, also Verteidigungsrevier) immer ein unbewusstes oder auch bewusstes Abtesten, wie die andere Person reagiert. Ob man(n) sie respektieren muss oder nicht, schlimmstenfalls sogar, ob sie sich als „Verbrechensopfer“ eignet. Das kann sehr bewusst geplant oder aber unbewusst ablaufen. Der amerikanische Sicherheitsberater Gavin de Becker beschreibt in seinem Buch „Vertraue deiner Angst“ sogar stereotype Begleitsätze, mit denen Widerstand von vornherein unmöglich gemacht werden soll. Echte Gewalttäter dulden keinen Widerspruch – sie verstärken in solchen Fällen nur ihre Gewalttätigkeit; wer kein Gewalttäter ist, korrigiert und entschuldigt sich sogleich – zeigt „tätige Reue“.

Die Transaktionsanalyse unterscheidet „games“ („Spiele“ wie Canasta, Kegeln etc. oder auch Fingerhakelziehen) als Interaktionen „auf Augenhöhe“ von „plays“ („Machtspielen“) als „schiefe“ Kommunikationsformen, entweder „von oben herab“ (z. B. „Ich kann viel für Sie tun, wenn …“ als Machtdemonstration oder „Stell dich nicht so an! Alle machen das!“ als Machtmissbrauch) oder „von unten hinauf“ (z. B. „Ich bin ja so einsam …“ als Mitleidsmasche), egal wie übertrieben freundlich oder bedrohlich sie inszeniert werden. Es gibt sie in der trivialen Form (wie schon oft in der Kindererziehung), als auch sexuell eingefärbt. Diese Sexualisierung kann auf selbsterlebten Grenzverletzungen beruhen (erkennbar durch Sätze wie „Hat mir nicht geschadet, wird dir auch nicht schaden“ – ein klassischer Beweis des „blinden Flecks“ in der Wahrnehmung!), auf unbedachte Unterwerfung unter einen angenommenen Zeit- oder Lokalgeist – oder aber auf Sadismus.

Nicht nur Autoritätsberufe ziehen KryptosadistInnen an – viele streben bewusst nach übergeordneten Positionen, um denen „da unten“ die „Waden vorwärts zu richten“. Sie überkompensieren damit Ohnmachtsgefühle, Hilflosigkeit, oft auch Inkompetenz (weil sie beispielsweise meinen, sich immer durchsetzen zu müssen), aber auch Einsamkeit.

In ihrem Buch „Tatort Couch“ zitierte die Sozialwissenschaftlerin Claudia Heyne eine Untersuchung des Deutschen Psychologenverbands, wonach diejenigen Psychologen sexuell übergriffig wurden, die wenig soziale Kontakte außerhalb ihrer Praxen hatten, schlechte Partnerbeziehungen und keine Supervision. Aus meiner Berufserfahrung gilt dies auch für andere Berufe – die dort meist unübliche Supervision kann analog am „diskreten“, nämlich feigen Wegschauen von Kollegenschaft oder Vorgesetzten erkannt werden.

Die kalifornische Psychologieprofessorin Nancy M. Henley (1934–2016) zeigt in ihrem Buch „Körperstrategien“ auf, wie „schief“ sich das Berührungsverhalten von weißen gegenüber farbigen Amerikanern und zusätzlich zwischen Männern und Frauen erweist: Man erkennt klar, wer sich gegenüber jemand anderen „Freiheiten herausnimmt“, die umgekehrt nicht gewagt und auch nicht geduldet würden.

Sozialgeschichtlich erklärt sich dies daraus, dass körperlich, finanziell aber auch durch Bildung oder Geburt privilegiert Stärkere andere versklaven oder anderwärtig dienstbar machen konnten. Aber jede Situation, in der zum Machtmissbrauch disponierte Menschen unkontrolliert über Abhängige verfügen können, bergen in sich die Verlockung sich an Verletzungen der körperlichen, psychischen bzw. sexuellen Integrität unterlegener Personen zu „ergötzen“.

Die rumänische Psychoanalytikerin Fanita English („Es ging doch gut – was ging denn schief?“) spricht von „übersicheren“ und „untersicheren“ Menschen. Die „Wilden“ überkompensieren ihre Mängel – beispielweise an Herkunft (Politiker!), Beliebtheit (Außenseiter), Status (Jugendliche), Attraktivität  oder eben einfach Sozialkompetenz – durch demonstrierte Übersicherheit: Sie wollen sich Bewunderung und Applaus „organisieren“ – vom anwesenden Publikum, solange ihr Agieren sich im gesellschaftlich tolerierten Rahmen bewegt, von den unsichtbaren Bezugspersonen aus Gegenwart und Vergangenheit, wenn diese Grenzen überschritten werden. Sie phantasieren sich auf diese Weise eine zustimmende „Meute“; ich nenne das „Krähensolidarität“ frei nach dem aus dem Lateinischen stammenden Sprichwort „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.“

So finden sich bei denjenigen, die andere gegen deren Einverständnis sexuell „anmachen“ (im Doppelsinn des Wortes!) Menschen, die damit ihrer „Jagdlust“ frönen: Sie wollen eigentlich Trophäen als „versteinerte“ Siegesbeweise und erweisen sich damit als „nekrophil“, wie der deutsch-amerikanische Psychoanalytikers Erich Fromm (1900–1980) („Anatomie der menschlichen Destruktivität“, „Haben oder Sein“) Menschen bezeichnet, die – im Gegensatz zu den „biophilen“, d. h. das Lebendige liebenden – Totes bevorzugen, weil sie das kontrollieren können. (Beispiel: Sie erfreuen sich nicht an einer Landschaft, sondern fotografieren sie, um die Bilder in ein Album zu kleben, das sie ablegen.) Eine einseitige Bezugnahme ist tot – es findet kein „belebender“ Energieaustausch statt.

Aus energetischer Sicht

Der deutsche Psychologe und Jurist Volker Elis Pilgrim veröffentlichte 1989 ein wagemutiges Buch (das er als „Forschungsnovelle“ bezeichnete) „Der Vampirmann“, in dem er darüber philosophierte, wieso in manchen Ehen die Frauen mit der Zeit schwächeln und krank werden, während ihre Männer nur so vor Kraft zu strotzen scheinen. (Umgekehrt gibt es das auch, aber selten.)

Was er nicht so deutlich aufzeigte, weil die Körpertherapien damals noch weitgehend totgeschwiegen wurden (und auch heute noch lange nicht so anerkannt sind, wie es ihnen eigentlich gebühren würde), ist der selten dauerhaft gelingende beidseitige Austausch von Sexualenergie in Paarbeziehungen.

Die klassische Horrorgestalt des Vampirs kann als Symbol für eine schwer depressive Person interpretiert werden: So wie diese verschläft er kraftlos den Tag und wird er erst am Abend aktiv – und nähert sich dann in der Gestalt eines Liebhabers, nur küsst er nicht sondern beißt und saugt seinem „Liebesobjekt“ das Herzblut aus. Er ist bedürftig. Aber das gesteht er sich nicht ein, denn er kann sich nicht widerspiegeln. (In den Mythen haben Vampire bekanntlich kein Spiegelbild.) Auch kann er fließendes Wasser nicht überqueren; Wasser steht in Träumen oder Märchen für Gefühls-Ströme. Die muss er vermeiden, weil sie ihn in der Beweglichkeit blockieren. Erlöst werden von diesem Scheintod kann er nur durch einen Pfahl ins Herz. Das kann man als Herzöffnung, als Freisetzen seines eigenen Herzbluts interpretieren.

Der Vampir wäre also „untersicher“ im Sinne von Fanita English und geriert sich „übersicher“, um seine auserwählten Opfer zur Widerstandslosigkeit zu bringen. Dazu dringt er in den Raum der Sicherheit ein – und will man das vermeiden, muss man ihm „was stinken“. Dazu dient Knoblauch.

Als Vampirin haben Energiesauger weniger Möglichkeiten, zählen auf ihre weibliche Attraktivität – aber Schönheit liegt bekanntlich im Auge des Betrachters, und wenn der oder die fest gebunden ist, fehlt freie Energie – die ist ja anderwärtig gebunden.

Werwölfe hingegen kann man zu den von vornherein „Übersicheren“ zählen, die hoch aggressiv ihren Energieüberschuss loswerden wollen (müssen) und daher andere als Beute sehen, die sie gelegentlich reißen und dann oft sogar als nicht mehr interessant liegen lassen.

Lässt man die mythischen Einkleidungen weg, zeigen sich zwei dysfunktionale Wege, mit energetischer Bedürftigkeit umzugehen: Der schmeichlerisch getarnte und der offen brutale. Beide dienen der eigenen narzisstischen Zufuhr, sie holen sich, wovon sie glauben, dass es ihnen zusteht – wie kleine Kinder im Alter von 24 bis 36 Monaten, die im schnellen Wechsel zwischen „liebe Mama!“ – „böse Mama!“ hin und her pendeln – und noch nicht beziehungsfähig sind (und das ja auch erst im Laufe der nächsten rund zehn Jahre lernen und einüben sollten).

Sie wollen „versorgt“ werden, sind aber nicht bereit, etwas dazu beizutragen. Kleine Kinder können das nicht – und wer sich nicht weiterentwickelt, auch nicht. Deshalb wird versucht, von anderen Energie zu bekommen, indem sie „von unten hinauf“ zur ewig spendenden Mutter gemacht werden oder “von oben herab“ zur bedienenden Magd. Beides verfehlt den gleichermaßen gewollten und gleichberechtigten Austausch der Sexualenergie und damit Befriedigung und lang anhaltende Sättigung.

Aber ist das heute überhaupt gewollt? Will unsere Gesellschaft nicht eher emotional ungebundene, beschleunigte und schnell international verschiebbare Arbeitskräfte, die das „Loch in der Seele“ durch Inszenierungen sexueller Hetzjagden (Hetz im Doppelsinn des Wortes!) in Kinozeit abwickeln? Und geht es dabei nicht insgeheim um die Hackordnung unter Männern, wer die Alpha-Position samt Erstnachtsrechten zumindest beansprucht – und hofft, dass niemand protestiert?

Rotraud A. Perner

 

Ursprünglich erschienen unter dem Titel
„Das gefährliche Spiel mit dem Joker-Effekt“ 
in: Die Furche | 10-11-2016

 

Man soll den Teufel nicht an die Wand malen, sagt der Volksmund, sonst ist er da. Heute ist oft die Filmleinwand die Nachfolgerin dieser Malfläche, und man sieht auf ihr nicht nur das Aussehen sondern auch das Verhalten – und das kann zur Nachahmung inspirieren.

Im ersten Batman-Film in den 1960er Jahren mit Cesar Romero war der Joker, ein ehemaliger Hypnotiseur, ein harmloser Spaßmacher mit schrillem Lachen. Ab Ende der 1980er Jahre zeigt der Joker in den Batman-Filmen (und Comics samt Replikas und Merchandising) unterschiedlichen aber immer unheimlichen Charakter: als Gangster (Jack Nicholson), Anarchist (Heath Ledger) oder Psychopath (Jared Leto).

Unheimlich ist das Gegenteil von heimelig, was frei von bösen Geistern bedeutet, wie schon Sigmund Freud aufzeigte. Der unberechenbare Joker löst Angst aus (oder aber seltener Zorn), und genau diese Bedrohlichkeit ist ein attraktives Vorbild vor allem für unreflektierte frustrierte Jugendliche und andere Machtlose, die ihrer erlebten Unwichtigkeit entkommen wollen. Der Joker hingegen ist sehr wohl reflektiert: Er kämpft gegen alle, die ihm im Wege stehen oder insgesamt gegen die Gesellschaft. Seine aktuellen Nachahmer hingegen scheinen nur die Macht der Einschüchterung genießen zu wollen; solche Übergriffe nachfolgend als Spaß zu verteidigen, hat Tradition, selbst wenn sich herausstellt, dass jemand nur im Schutz der Anonymität Rache nehmen wollte.

Angst machen heißt Hochstress auslösen, und das stellt eine oft lang andauernde Gesundheitsschädigung dar, quasi eine leichte Körperverletzung, und gehört wie diese mit Konsequenzen belegt. Das kann gezielte Absicht sein: Maskierungen sind dann Schutzmaßnahmen um nicht erkannt zu werden – denken wir nur an die Verbrechen des Ku Klux Klan mit seinen pseudoreligiösen Spitzhüten oder anderer terroristischer Vereinigungen, die ihr Gesicht unter symbolhaften Tüchern verstecken.

Das Gesicht zu zeigen besitzt Appellcharakter: Man sieht die Gefühle der anderen Person (sofern man nicht ganz verroht oder abgestumpft ist) und reagiert – irgendwie. Deswegen wird ja mancherorts Gefangenen oft der Kopf verhüllt und ihren Bewachern jegliche Kommunikation verboten. Denn wie Paul Watzlawick so treffend formulierte: Wir können nicht nicht kommunizieren. Umgekehrt gilt dies auch: Die Wahl einer Maskierung besagt, man will nicht als lebendiger Gleicher wahrgenommen werden. Und sie besagt gleichzeitigt, mit wem man sich identifiziert: Pumpgun Ronnie mit dem seinerzeitigen US-Präsidenten Ronald Reagan etwa. Im weißen Gesicht des Clowns mit dem blutrot umrahmten Mund hingegen zeigt sich die Blässe des Todes und das Fremdblutsaugen des Vampirs oder Werwolfs. Auch für den Joker ist das Leben nur ein Witz – und der Tod ist dessen Pointe.

Diese Pfeif-drauf-Ideologie finden wir heute bei vielen Menschen, vor allem Jugendlichen, die – noch – keine Erfahrungen mit Sinn stiftenden Beziehungen machen konnten. Solche erfordern wertschätzende Eltern, Lehrkräfte, Ausbildner, Vorgesetzte und Kollegen, die einen als Person wahrnehmen und fördern – nicht nur destruktiv kritisieren oder hämisch auslachen (wie es der Joker tut).

Üblicherweise suchen die so Abgewerteten die Anonymität in einer Gruppe oder Subkultur, in der sie sich stark wähnen und entsprechend agieren können ohne dass sie leicht als konkret Verantwortliche identifiziert zu werden – denken wir nur an Hooligans oder den „Schwarzen Block“. Einzelauftritte als Gruselclown sind neu – das Prinzip ist aber das Gleiche. Es findet sich auch im Vertrauen auf die vermeintliche Anonymität im Internet: Man rechnet nicht mit Enttarnung und schon gar nicht mit Negativkonsequenzen. Das erklärt auch das Selfie-Protzen auf Facebook oder Youtube.

Negativkonsequenzen sind aber notwendig. Und nicht nur für die Täter, sondern auch für die Bystander (das sind die Augen- oder Ohrenzeugen, die wegschauen und passiv bleiben). Die Gesellschaft muss deutlich machen, was sie nicht toleriert bzw. nur unter welchen Bedingungen. Damit sei darauf hingewiesen, dass auch Krampus- oder Perchtenläufe die Gefahr gewalttätiger Übergriffe in sich bergen und daher sozial kontrolliert gehören: Es muss festgehalten werden, wer hinter welcher Maske steckt, wenn er – oder sie – sich in die Öffentlichkeit begibt. Das gehört in den Zuständigkeitsbereich der Polizei. Vermummungsverbote haben in der heutigen „beziehungslosen Gesellschaft“ Sinn. Dort, wo jemand begründet nicht erkannt werden soll, wird man sich etwas Neues einfallen lassen müssen. Dazu sind vor allem all diejenigen aufgefordert, die sich jetzt über steigende Umsätze von Clownmasken freuen.

Aber auch wir alle sollten uns erinnern, dass jede und jeder für Sicherheit Verantwortung trägt und nicht alles wegdelegieren – das Strafen an Polizei und Gerichte, das Liebhaben an Sozialarbeiterschaft und Psychotherapeut_innen. Da wir aber an Vorbildern lernen und beim „Üben“ Bestätigung brauchen, damit wir Machtlust anders als durch Kleinmachen von Anderen genießen können, braucht es Empowerment schon von klein auf. Phrasen allein genügen nicht. Wir brauchen Selbstverteidigungsvorbereitungen – und dazu zählen auch die Kraft der Stimme und die Kraft des Wortes. Ich habe das schon 1987 auf der sogenannten Wiener Konferenz in meiner letzten Rede als Kommunalpolitikerin für den Unterricht in Leibeserziehung gefordert (und halte nach wie vor nichts von der Sinngebung „Bewegung und Sport“ – das greift viel zu kurz). In „Gotham City“ muss man damit rechnen, attackiert zu werden. Also gilt es auch, unsichere Orte zu meiden bzw. sicher zu machen – und wenn es beispielsweise nur durch blaues Licht in der Straßenbeleuchtung ist (wie japanische Versuche bewiesen haben) – oder verbesserte Einsehbarkeit und Vermeidung baulicher Hinterhalte.

Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass die Wohlstandsverlierer und Erziehungsgeschädigten niederschwellig und lustvoll informiert werden, dass und wie Bildung die Selbstachtung hebt. Wir müssen dem „No future“ ein „Schon future“ entgegen setzen.

Rotraud A. Perner

 

Ursprünglich erschienen unter dem Titel
„Rachephantasien, Heldenillusionen“
in: Die Furche | 04-08-2016

Hass kann den Hass nicht austreiben!
Das gelingt nur der Liebe.
Martin Luther King

 

Bei den zielgerichteten Massentötungen an Schulen der vergangenen Jahre war die Verbindungslinie zu erlittenen Demütigungen durch Lehrkräfte und Mitschülerschaft klar erkennbar. Wildfremde Jugendliche zum Tatort anzulocken – wie bei der Wahnsinnstat von München geschehen – ist neu. Woher dieser Hass?

Hass kann, poetisch interpretiert, als ein Selbstheilungsversuch angesehen werden, aus empfundener Erniedrigung in Größengefühle empor zu wachsen. Man hält die Luft an und pfaucht sie, sich selbst quasi zum Lauf einer Schusswaffe verengend, dorthin aus, wo das Hassobjekt vermutet oder gesichtet wird – diejenigen, denen es vermuteter Weise besser geht – die etwas haben, was einem selbst schmerzlich mangelt: eine befriedigende Zukunftsperspektive. Ich wähle bewusst dieses Eigenschaftswort, weil der Begriff Friede drinsteckt.

Vorschulkinder pflegen nur zu protzen: sie verengen sich noch nicht, sondern blähen sich bloß auf – sie „geben an“. Ältere Kinder „teilen aus“ und entlasten sich damit von der aufgestauten Wut.

Um in Wut zu geraten, muss innere Erregung aufgebaut und  gesteigert werden.  Das schaut man sich von anderen – Eltern, Geschwistern, Nachbarn oder Filmhelden – ab. Durch das Schlagwort – bereits ein Gewaltbegriff! – vom „Wutbürger“ ist Wut plötzlich gesellschaftsfähig geworden. In der Psychoanalyse sprechen wir von „oraler“ Wut und ordnen sie der Entwicklungsstufe des hungerdurchtobten Säuglings zu: Wut ist „ungerichtet“, d. h. sie hat kein Ziel, sie tobt nur Frust aus. Im Gegensatz dazu steht der „anale“ Zorn: in der auf die orale Phase folgenden sogenannten analen ist die Muskulatur des Kleinkindes bereits so erstarkt, dass zielgerichtete geschlagen, gebissen, gezwickt, gekratzt, zerstört werden kann. Und das wird lustvoll ausagiert – bis das Kind gelernt hat, seine Kräfte mit Worten auszudrücken und nicht nur mit den Fäusten. Dazu braucht man wie bei allem, was man „können“ sollte, Vorbilder, Übung und – Anerkennung. Und gerade an dieser mangelt es – und das muss man auch erst aushalten lernen wie ebenso den Mut, Respekt einzufordern.

Vor der – von mir so genannten – „Selbstbehauptungswende“ 1970 hießen die Erziehungsleitlinien Gehorsam und schweigende Unterwerfung für „die unten“ und Befehls- und Strafgewalt für „die oben“. Mit den politischen Strömungen zu Mitbestimmung im Betrieb, Partnerschaft in Ehe aber auch Schule und Bürgerinitiativen begeisterten sich viele für das Ideal des „mündige Bürgers“ – nur die zum Dialog nötigen Mundfertigkeiten wurden weder propagiert noch vorgelebt, ganz im Gegenteil wie das Beispiel der gleichzeitig aus den USA – einem kriegsführenden Land! – stammenden Action-Filme bewiesen. Deswegen habe ich in dem von mir 2008 an der Donau Universität entwickelten Masterstudium PROvokativpädagogik (nicht zu verwechseln mit dem Nachfolgeversuch Provokationspädagogik!) dem Dialog nach Martin Buber und David Bohm ein ganzes Modul gewidmet: in der ohnedies schwierigen Zeit des Erwachsenwerdens braucht es Menschen, die den Mut haben, auf diejenigen zuzugehen, die „anders“ sind – egal aus welchen Gründen – und sie mit Aufmerksamkeit und Interesse „beantworten“ – nicht mit Kritik, Drohung oder Ausgrenzung, die aber auch den Mut haben, respektvoll Grenzen zu setzen bzw. aufzuzeigen, wenn solcher verletzt werden. Beides erfordert eine andere Art von Wahrnehmung als die durch Berufs- und sonstigen Zeitdruck oder Handy-Blick und Walkman-Laut verminderte. Die kann man sich nur in Situationen der Sicherheit erlauben, daher nicht im Straßenverkehr, am Bahnübergang oder unter Menschenmassen.

Das sogenannte subjektive Sicherheitsgefühl ist leider eine Selbsttäuschung. Es dient zwar der Angstabwehr – doch Angst ist ein Warnsignal, daher hilfreich. Chronisch sollte sie nicht werden, sondern durch den Mut zur Realitätssicht mittels Überprüfung möglicher Gefahrenquellen ausgeglichen werden. Wir tragen aber auch alle einen „inneren Rächer“ in uns – und der wächst sich zum Monster aus, wenn man nicht darauf achtet, welche – nicht nur psychischen – Verletzungen er überkompensieren will. Das betrifft auch die Verletzung von Werten, politischen, religiösen etc. und auch nationalen.

Das ist das Gefährliche an Massenmördern wie Brejvik: dass sie nationale Überlegenheit propagieren – unbesehen wie kriminell mit dieser Argumentation gehandelt wird. Aus meiner Sicht zeichnete der Gedenktag an Utoya die direkte Linie zu der Münchner Massenhinrichtung – denn diese brauchen keinen „aktuellen“ Auslöser wie die School Shootings. Sie werden langfristig geplant. Wir in Österreich brauchen nur an Franz Fuchs zu denken.

Wann immer wir planen, läuft ein geistiger Film – und der orientiert sich an realem Vorbild-Repertoire. Dazu zählen Rachephantasien aber auch Heldenillusionen.

Was aber wirklich wichtig ist und deshalb immer wieder betont werden sollte – vor allem wenn auf Ehre berufen wird: ehrenhaft ist nur, unter Verzicht auf Hinterhalt und Hinterhältigkeit offen Konflikte anzusprechen und auf Verträge hinzuarbeiten. Sich vertragen bedeutet Verträge zu schließen. Dazu muss einer Konfliktpartei – die die als erste das Konflikthaft erkannt hat – auf die andere zugehen. Das kann jede und jeder von uns sein – wir müssen es nur in wertschätzender Sprache tun – und nicht dröhnen oder dramatisieren wie es viele Politiker tun um sich durch das Gejohle der Massen „sicher“ nämlich bestätigt fühlen zu können. Wir sind auch innerhalb von Massen nicht mehr sicher.

Wer meint, Sicherheit wäre eine Bringschuld von Polizei oder sonstigen „Autoritäten“ wird jetzt daran erinnert, dass 50 % oder mehr an Personenschutz unsere eigene Aufgabe darstellt.

Sich selbst zu behüten setzt allerdings ein Minimum an Selbstliebe voraus – und die lernt man in den ersten ca. sechs Lebensjahren und „in Beziehung“: was Eltern aus Unwissenheit oder Zeitnot nicht schaffen, kann und soll Aufgabe von uns allen sein und nicht ausschließlich an Bildungs- und Sozialeinrichtungen wegdelegiert werden.

In Krisenzeiten – und Adoleszenz ist eine solche wie auch Arbeitslosigkeit, Armut, wiederholte oder permanente Diskriminierung in Zeiten, in denen unentwegt Erfolgsbilder vorgegaukelt werden – sind wir alle gefährdet, unsere psychische Stabilität zu verlieren. Manche flüchten dann in Drogen, Alkohol mitgemeint, und andere in Rächerphantasien, wie sie medial angeregt werden, Selbstopfer inklusive. Nur wer liebt – das Leben liebt – kann Hass überwinden.

Rotraud A. Perner

 

Wenn eine Gesellschaft etwas als ,natürlich‘ erklärt,
will sie damit nur ausdrücken,
dass sie etwas als unangreifbar wünscht.
Volker Elis Pilgrim

 

(Zitate wurden der neuen Rechtschreibung angepasst.)

Um etwas wahrzunehmen, braucht man ein spezifisches Wahrnehmungsneuron. Um es zu erinnern und zu kommunizieren, braucht man dafür eine sprachliche Repräsentanz. Fehlt dieses „Handlungsneuron“, bleibt es bei einer körperlichen Empfindung, und wenn diese zu Ausdruck und Veränderung drängt, ein mehr oder weniger emotional ausgelöster Impuls, möglicherweise auch nur eine bildhafte Phantasie. Oft führt solch ein Fragment eines möglichen Verhaltensreichtums zu physischen Gewaltaktionen. Durch Sprache ausgedrückt, könnte aber auch ein gewaltverzichtender Verhandlungsprozess eingeleitet werden, der in Einigung endet – oder im Gegenteil in einer Manipulation, in der die behauptete Entscheidungs“gewalt“ als unvermeidbar (z. B. als „natürlich“) versteinert wird.

Letzteres soll Thema dieser meiner Überlegungen sein.

In den Jahren, in denen ich als Professorin für Gesundheitskommunikation und Kommunalprävention und stellvertretende Vorsitzende des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen (für die ProfessorInnenkurie) an der Donau Universität Krems angestellt war, war ich 40 % dem Zentrum für Chinesische Medizin und Komplementärmedizin, 40 % dem Zentrum für Management und Qualitätssicherung im Gesundheitswesen und 20 % dem Bereich Frauenförderung und Genderkompetenzen zugeteilt. In letzterem Bereich führte ich kontinuierlich zahlreiche Coachinggespräche mit Kolleginnen in unterschiedlichsten Aufgabenbereichen durch. Ergänzt durch Erfahrungen aus meiner freiberuflichen Praxis als Psychotherapeutin, Gesundheitspsychologin und Juristin brauchte es einige Zeit, bis mir die  wiederkehrenden top-down-Muster von Behinderung wie auch Ausbeutung in ihrer stillschweigenden Hinnahme als scheinbar normales „Führungsverhalten“, tatsächlich jedoch traditionelle Form struktureller Gewalt klar wurden.

 

Was bedeutet „strukturelle Gewalt“?

Nach dem norwegischen Soziologen, Friedensforscher und Träger des Alternativen Nobelpreis Johan Galtung (* 1930) liegt strukturelle Gewalt dann vor, „wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle Verwirklichung“.

Gewalt wird hier definiert als Ursache für die Differenz zwischen dem Potenziellen und dem Aktuellen, also dem, was hätte sein können und dem, was ist, wobei damit nicht nur die ungleiche Ressourcenverteilung angesprochen ist sondern vor allem die ungleiche Entscheidungsgewalt hinsichtlich der Ressourcen. Galtung nimmt an, dass personelle wie strukturelle Gewalt symmetrisch sind, d. h. keiner der beiden wird zeitlich, logisch oder wertmäßig der Vorrang gegeben. (Posern: 37) Der Gewaltbegriff ist damit nicht mehr epistemisch an ein handelndes Subjekt (oder auch kollektive Täterschaft) gebunden sondern wird von den Folgen her beurteilt.

Gewalt kann aber auch von den Zielen her beurteilt werden. So dient Gewalt – beispielsweise verkörpert durch einen frauenfeindlichen Männlichkeitsstil – u. a. auch der Identitätsbildung. (Dinges: 177) Dementsprechend kann man schließen, dass auch Entscheidungsgewalt bzw. der Ausschluss davon und die dabei praktizierten Entscheidungsstile identitätsbildenden Charakter besitzen – zum Beispiel für eine Identität als Führungskraft, als WissenschaftlerIn, als Hilfskraft und so weiter. Die Geschichte zeige, wie Gewalt aus religiösen (Priester-) und öffentlichen (Richter-)Rollen abgeleitet und legitimiert wurde; auch autobiographische Zeugnisse legten dar, dass die Gewalttätigen ihre Gewaltausübung als heilsame „Pädagogik des Horrors“ zur Abschreckung gegen Konterrevolutionäre für legitim hielten. (Dinges: 179)

Wer richterliche Aufgaben – beispielsweise die Beurteilung von Verhalten – Leistungen und Gesinnungen inklusive – übernommen hat, läuft Gefahr, bewusst oder unbewusst konträre Sichtweisen als Infragestellung oder Verletzung dieser Bewertungsmacht zu deuten.

 

Die Aufgabe des Wissenschaftsbetriebs

Nach dem Universitätsgesetz 2002 in geltender Fassung, 1. Teil, 1. Abschnitt, 1. Unterabschnitt (Grundsätze, Aufgabe, Geltungsbereich) § 3. Ziffer 4 zählt zu den Aufgaben der Universitäten ausdrücklich auch die Förderung des wissenschaftlichen und künstlerischen Nachwuchs (zusätzlich zu Forschung und Lehre s. Ziffer 1).

Während jedes Vereinsstatut ausweisen muss, mit welchen Mitteln die Ziele des Vereins erreicht werden sollen, steht nichts im Universitätsgesetz, wie  konkret diese Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchs‘ bewerkstelligt werden soll.

Als Richtlinie bietet sich dafür der Begriff der Gesundheitsförderung an, der die Befähigung des Menschen zur möglichst weitgehenden Kontrolle der Bedingungen ihrer Gesundheit zum Inhalt hat. Gesundheit wird dabei entsprechend der Definition der Weltgesundheitsbehörde (Ottawa Chart der Gesundheitsförderung 1986) als Zustand  völligen psychischen, physischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur Freisein von Krankheit und Gebrechen verstanden sowie als Grundrecht „ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Überzeugung, der wirtschaftlichen und sozialen Stellung“. Und in der 1997 verabschiedeten Jakarta-Deklaration zur Gesundheitsförderung im 21. Jahrhundert wird zusätzlich auf die Förderung sozialer Verantwortung für die Gesundheit verwiesen, die Festlegung und den Ausbau von Partnerschaften für die Gesundheit und die Stärkung der gesundheitlichen Potenziale von Gemeinschaften und der Handlungskompetenzen des Einzelnen. (Homepage des Österr. Gesundheitsministeriums[1], Hervorhebungen RAP)

In den fünf Jahren (2005–2009), in denen ich Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Fonds Gesundes Österreich war, gab es immer wieder Diskussionen, ob bei der Zuteilung der Fördermittel auf Projekte der schulischen, betrieblichen und kommunalen Gesundheitsförderung Schulen auch Betriebe wären. Ich vertrete die Ansicht, dass sie das sehr wohl sind – sie sind Arbeitsplätze. Und ich bin auch der Ansicht, dass Universitäten und Hochschulen in diese Perspektive einbezogen werden müssen.

Das Wort „Betrieb“ umfasst ja nicht nur das Betreiben von Zielen oder Prozessen sondern auch die juristische Umrahmung; hinterfragt man aber das Epistem dieser juristischen Grundlagen von mehr oder weniger großen bzw. komplexen Arbeitseinheiten nicht nur von der Gebotsseite sondern auch von der Verbotsseite, so treten neben die zivilrechtlichen Aspekte auch die strafrechtlichen[2], nämlich im Sinne der Fürsorgepflicht des Arbeitgebers die Gesundheit die Mitarbeiterschaft (und seit der Novelle 2013 zum ArbeitnehmerInnenschutzgesetz  auch die psychische!) nicht zu verletzen. Dem sollen Evaluationen dienen – aber was nützen Erhebungen zu gefühltem Stress wenn Fragen nach dem Führungsverhalten ausgeblendet werden?

Zwar können körperliche oder verbale Attacken gegenüber Vorgesetzten Grund für eine fristlose Entlassung bieten – umgekehrt müssen zivilrechtliche Sanktionen für gesundheitsschädigendes Verhalten erst mühsam arbeitsgerichtlich erstritten werden.

Der Freiburger Neurobiologieprofessor, Internist, Psychiater und Psychotherapeut Joachim Bauer betont, dass dauerhaft verweigerte Akzeptanz einen kritischen Abfall von gesund erhaltenden Botenstoffen und psychische und körperliche Erkrankung zur Folge haben kann. (Bauer: 41) „Die Schmerzgrenze wird ,aus der Sicht des Gehirns‘ keineswegs nur dann überschritten, wenn Menschen physischer, also körperlicher Schmerz zugefügt wird. Die Schmerzzentren des Gehirns reagieren auch dann, wenn Menschen sozial ausgegrenzt oder gedemütigt werden.“ (Bauer: 59)

Soziale Ausgrenzung beginnt bereits dann, wenn jemand aus der sozialen Gemeinschaft – beispielsweise einer Hörerschaft oder einem Team – negativ hervorgehoben wird und gleichzeitige Solidaritätsbekundungen verpönt werden. Sie liegt aber auch vor, wenn jemand aus selbstreferentiellen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen ist (ausgenommen Gefahr im Verzug). Bauer weist darauf hin, dass oft gerade Rücksichtlosigkeit – was als emotionale Störung klassifiziert werden kann – und manipulative Fähigkeiten Menschen in Führungspositionen aufsteigen lassen, wo sie durch ihren destruktiven Führungsstil großen Schaden anrichten. (Bauer: 93) Wenn man nun nicht das Verursacher- (Täter-)Paradigma anwendet sondern die Rahmenbedingungen betrachtet, die Kontrolle und Korrektur behindern, erkennt man die Analogiebildungen zu der übermächtigen Vater- oder Vatergott-Gewalt gegenüber unmündigen bzw. unmündig gehaltenen „Kindern“.

 

Was fördert – was hindert

Gewalt in umfassendem Sinn wird als Mittel sozialer Kontrolle von Abweichlern genutzt, die gegen geltende Normen verstoßen, zur Absicherung  eines gefährdeten ökonomischen Status, zur Herstellung oder Stärkung der Identität z. B. bestimmter Altersgruppen, von Berufsgruppen usw., vor allem aber auch zur Erhaltung männlicher Hegemonie, und übt damit eine kulturelle Funktion aus. (Dinges: 188) Die physische Form ist als „elterliche Gewalt“ oder sexuelle Gewalt in der Ehe erst seit kurzem – etwa zwanzig Jahren – gesetzlich  verboten; gegenwärtig entsteht das Bedürfnis nach Einschränkung verbaler Gewalt – aber nur in den sozialen Medien, da es dort massiv die Politikerschaft betrifft und damit öffentliche Bedeutung gewonnen hat. In der Arbeitswelt wird sie heruntergespielt. Finanzielle und vor allem strukturelle Gewalt wird hingegen weitgehend ignoriert und als persönliches Versagen der Benachteiligten individualisiert.

Unabhängig von mangelnder sozialer Kompetenz – oder auch Psychopathien in der Persönlichkeit (Bauer: 91 ff.) – der Akteure[3] zeigt sich strukturelle Gewalt in „traditionellen“, d. h. gewohnten „Spielregeln“ von Privilegien für Führende und gezielte Benachteiligung und Ausbeutung des “Nachwuchs“, Einschüchterungsverhalten und Ausgrenzung (Kündigung) von KritikerInnen sowie Versuchen zur Schaffung von (auch sexuellen) Abhängigkeiten.

Hinter diesen „Spielregeln“ verbergen sich langzeitlich erworbene epistemische Grundannahmen, wie soziale Ordnung herzustellen sei und was  dabei gerecht ist. Neben geschlechts- bzw. generationendifferenzierenden Codes aus Medizin und Theologie finden sich dabei auch juristische Codes samt „Mechanismen der Durchsetzung“ (Baer: 159), die sich immer zwischen Bevormundung und Befreiung bewegen (Baer: 166).

Zu diesen Grundannahmen zählt auch das Ignorieren von physischem Stress und psychosexuellen Folgen sexueller Belästigungen. Noch immer wähnen manche Unbelehrbare, die ihre Rangattitüden ausagieren wollen, das Primaten-Vorrecht des ranghöchsten Männchens, mit jedem Weibchen zu kopulieren, gelte auch heute in Hierarchien. (Schwarz: 52 f.) Dass dies sexuelle bzw. sexualisierte Gewalt Mächtiger gegenüber wehrbehinderten Untergebenen darstellt, wird verleugnet, ins „neckische“ Gegenteil verkehrt oder im Vertauschungsagieren projiziert.[4] Gerhard Schwarz stellt fest, dass sexuelle Handlungen in dem Maß im Gegensatz zur Öffentlichkeit stehen und vermehrte Kontrolle verlangen, je mehr Menschen daran beteiligt sind. Er schreibt: „Das angemessene Benehmen jedes Partners ist Voraussetzung eines sozial organisierten Miteinander. Fassungslosigkeit oder Verlegenheit, Affekte und Emotionen disqualifizieren den Kulturmenschen in der Öffentlichkeit – es sei denn, er ist wie beim Schauspieler durch den Standard dazu legitimiert.“ (Schwarz: 125)

Hierarchien sind juristische – daher veränderbare – Konstruktionen zur Festlegung von Zuständigkeiten und Weisungs- bzw. Sanktionsrechten; sie sind keine Erlaubnis für schlechtes Benehmen oder Machtallüren. In einer auf egalitärer – im Sinn von gleichen Integritätsansprüchen – Kommunikation basierenden Zusammenarbeit sind räumliche wie zeitliche Grenzveränderungen in gewaltverzichtender Sprache zu vereinbaren, wobei Machtungleichgewichte a priori auf strukturelle Gewalt hindeuten.

 

Die Struktur des Wissenschaftsbetriebs

Von Robert Merton stammen die „vier institutionellen Imperative“, die das „Ethos der Wissenschaft“ ausmachen (Wiesner: 86 f.). Sie bestehen in

  1. Universalismus: Wahrheitsansprüche, gleich welcher Herkunft, müssen demnach vorab aufgestellten, unpersönlichen Kriterien unterworfen werden. Die Anerkennung wissenschaftlicher Behauptungen dürfe daher nicht von individuellen oder sozialen Merkmalen ihrer Verfechter abhängen.
  2. Kommunismus: Eigentumsrechte werden weitgehend beschnitten. Die Ansprüche von WissenschaftlerInnen auf ihr geistiges Eigentum beschränkten sich laut Merton auf Anerkennung und Ansehen – etwa durch Eponymie (Namensgebung nach den Entdeckenden).
  3. Uneigennützigkeit: Wenn die Institution uneigennütziges Handeln zur Pflicht erklärt, liegt es im Interesse der WissenschaftlerInnen, dieser Forderung zu entsprechen – als Rechenschaftspflicht gegenüber „Standesgenossen“ und damit spezifisches System institutioneller Kontrolle.
  4. Organisierter Skeptizismus: gefordert wird damit das methodologische und institutionelle Gebot von unvoreingenommener Prüfung von Ansichten und Überzeugungen anhand empirischer und logischer Maßstäbe.

Alle diese „Imperative“ können im Sinne des „organisierten Skeptizismus“ aber als Formen epistemischer Gewalt enttarnt werden:

Ad a) wird die Einstein‘sche Anschauung ignoriert, dass man Ereignisse nur am Beobachter beobachten kann (Devereux: 17) und auch der Wissenschaftler auf Grund seiner soziokulturell gelenkten Denkgewohnheiten unbewusst „willfährig“ den Forderungen der Gesellschaft entspricht, die von ihm auch erwartet, dass er diesen entspricht. (Devereux: 157) Es mutet daher grotesk an, wenn durch das Vermeiden von Ich-Sagen der Anschein von Objektivität erweckt werden soll – wie  Frank Senske aufzeigt: „Beim Ich-Sagen gibt es wie bei jedem Sprechen von Irgendwas ein Ich-Sagendes, also ein Erkennendes und ein Be-Sagtes, also ein Erkanntes. Subjekt und Objekt. Ich-Erkennendes sagt „Ich“ zu einem Erkannten.“ (Senske: 32) Auch Heike Wiesner weiß, dass die Verbindung des Objektivitätsbegriffs mit Autonomiebestreben und die Erkenntnis, dass die Subjekt-Objekt-Trennung wohl mehr über das beobachtende Subjekt aussagt als über das beobachtete „Objekt“, nicht nur ungewohnt sondern vor allem unbequem ist – sie geht nämlich nicht ohne Selbsterkenntnis. (Wiesner: 55)

Je höher der beanspruchte Status von Wissenschaftlern (männlich!), desto eher wird Ich-Sagen akzeptiert. Je gewalt- und damit statusverzichtender Lehrende sind, desto mehr respektieren sie das Ich-Sagen als Form von Selbstachtung und auch Abwehr des wissenschaftlichen Kommunismus.

Ad b) ist festzustellen, dass Eigentumsrechte tatsächlich aber auch „gestohlen“ werden. Wie anders ist zu erklären, dass ein (juristisch ausgebildeter) Rektor (von dem man die Kenntnis von Urheberrechten erwarten sollte), während er anscheinend das geistige Eigentum von nicht seiner Universität zugehörigen Wissenschaftlern über (nicht akzeptable) Verträge erwerben will, gleichzeitig dieses an seiner Universität implementiert und noch dazu unter Vortäuschung einer real nicht erfolgten Einigung auch die zugehörigen Drittmittelfinanzierung? Und auf Protest zynisch erklärt „Ideen haben kein Mascherl?“ Redlichkeit sieht anders aus.

Wem gehört die Priorität auf Forschungsresultate?, fragt Heike Wiesner und berichtet, dass es ihr nicht gelungen sei, eine Vielzahl von Prioritätsansprüchen von Frauen ausfindig zu machen. (Wiesner:  89)

Ad c) wird Uneigennützigkeit insgeheim als Fremdnützlichkeit verstanden. Senske weiß: „Um im Wissenschaftsbetrieb, im Forschungslaboratorium des Profitkonzerns und der Ruhmuniversität arbeiten zu können, als lebendiger Mensch (nicht als Automat), muss man ganz ungeheuer viel ignorieren. Verdrängen, meine ich.“ (Senske: 50) Vor allem die Selbstachtung und damit den Anspruch auf psychische Unversehrtheit.

Merton etwa verweist auf die Unvereinbarkeit der Werte „Originalität“ – der Wissenschaftler motiviert, andere überflügeln zu wollen – und der geforderten „Bescheidenheit“. (Wiesner: 85) Prioritätsansprüche ließen sich als normativ-institutioneller Zwang für Frauen interpretieren, diese nicht einzufordern. Tun sie es doch, laufen sie Gefahr, diffamiert und ausgegrenzt zu werden. (Wiesner: 93)

Ad d) zeigen meine eigenen Erfahrungen mit Peer Reviews, dass die – anonym bleibende –Rezensentenschaft – offenbar in Ermangelung einer mir analogen Interdisziplinarität (als Juristin, Sozialtherapeutin, Pädagogin, Psychotherapeutin/ Psychoanalytikerin, Neurolinguistin und Theologin) – sich an meiner Sprachgestaltung „stößt“. Ich subsumiere meine Art zu schreiben / zu reden unter „Wissenschaftspoesie“. Statt sich mit dem Inhalt auseinander zu setzen, was Sicherheit in all diesen Sachgebieten (oder Unsicherheit zuzugeben) erfordern würde, wird meine Sprache kritisiert. Frank Senske schreibt: „ Wissen heißt: sich bestimmter Einfälle besonders sicher sein.“, und, „Ich bitte um Verständnis und Entschuldigung, wenn ich hier in einer scheinbar mechanistisch-objektivierenden Sprache spreche. Man muss sich leider eine ganz eigene Sprache erfinden, um diesen Fehler zu vermeiden, wie z. B. Martin Heidegger oder Alfred Whitehead.“ (Senske: 87)

 

Geheime Strategien: Cindarella-Taktiken

Wenn andere Menschen in ihrer Selbstaktualisierung behindert werden, liegt es nahe, von Wiederholungszwang (man tut anderen an, was einem selbst angetan wurde) zu sprechen. (Perner: 49 ff.) Doch liegt es öfter am Konformitätsdruck und Abwehr bedrohlicher Enttarnung eigener Karrieresehnsüchte. Wenn Paul Feyerabend über indigene Medizinmethoden schreibt: „Die Wissenschaften sind […] Produkte, die der Wissenschaftler zum Verkauf anbietet und die Bürger entscheiden, ihren Traditionen gemäß, was gekauft wird, und was man liegen lässt. Die Wissenschaften sind nicht Bedingungen der Rationalität, der Freiheit, sie sind nicht Voraussetzungen der Erziehung, sie sind Waren. Die Wissenschaftler aber selbst sind Verkäufer dieser Waren, sie sind nicht Richter über wahr und falsch. Sie sind höchstens bezahlte Diener der Gesellschaft, sie werden angestellt, um gewisse beschränkte Aufgaben zu lösen, und zwar unter Aufsicht der Bürger, die allein über die Natur der Aufgaben und die Art ihrer Ausführung entscheiden.“ (Feyerabend 1980: 17 f., Hervorhebungen im Original), entsteht so eine Vision einer demokratisierten Wissenschaft, die sich nicht nur auf „wissenschaftliche Berufsvorbereitung“ der Studierenden einlässt um Zeit und Raum für die eigene mehr oder weniger erfolgreiche Forscherkarriere zu erlangen oder abzudienen, sondern der Allgemeinheit verpflichtet ist, das geistige Potenzial ihrer Mitglieder optimal, d. h. ohne Beeinträchtigungen, zu fördern.

Die deutsche – im angloamerikanischen Sprachraum ist es anders! – Wissenschaftssprache ist dabei nur eine der Taktiken von hierarchischen Elitenbildungen; eine andere sind gezielte narzisstische Kränkungen für „Nicht-Gleiche“, die gleich werden wollen. Ist der Abstand groß genug, kann man den oder die Andere „über-sehen“, entsteht aber die Nähe der Konkurrenz, wird versucht, wieder Distanz zu produzieren. Eine andere Taktik ist die Bevorzugung (oder Diskriminierung) bei Abstammung aus den „richtigen“ Familien (oder Herkunft aus nützlichen Netzwerken), wie die EliteforscherInnen Julia Friederichs und Michael Hartmann nachweisen konnten.

Man erkenne, dass Vielfalt manchmal von außerwissenschaftlichen Instanzen erzwungen werden müsse, schreibt Paul Feyerabend, die genügend Macht hätten, um sich gegen die mächtigsten wissenschaftlichen Institutionen durchzusetzen. (Feyerabend 1986: 67) Das gleicht der Notwendigkeit von Staatskontrollen von gewalttätiger „Privatheit“ oder verteidigter „Autonomie“ beispielsweise der Universitäten. In einer „vaterlosen“ Gesellschaft verkümmert allerdings dieses Korrektiv.

 

Beispiele aus meiner Praxis 

  1. Behinderungen: generelle externe Publikationsverbote, spezielle interne Publikationsverbote (z. B. bei gendersensiblen Themen) bzw. „sanfter“ Zwang, sich für die eigene Dissertation mit den Forschungsthemen des Vorgesetzten zu beschäftigen; Verweigerung von Unterschriften unter Ansuchen (z. B. für Habilitationsstipendien). Verbote, an Kongressen teilzunehmen.
  2. Ausbeutungen: „Vergessen“ von Namensnennung der Mitarbeitenden bei Publikationen, Vorschützen von Fällen „höherer Gewalt“ als Begründung der Nichtleistung ausgemachter Arbeitsteilung von Männern gegenüber gleichrangigen Kolleginnen, die ihre Arbeitsleistung konkret erbracht hatten und nun auch die Portion des Mannes abarbeiten, um Termine einzuhalten, aber bei der Präsentation des Werkes ausgeladen werden; „Umleitung“ von Drittmitteln, die niederrangige KollegInnen akquiriert hatten, auf sich selbst. Diebstahl von Konzepten zur eigenen Gloriole.
  3. Mobbing: Diskriminierung von Frauen bei der Vergabe von zulagenträchtigen Arbeitsaufgaben; Vorenthalten wesentlicher Informationen (z. B. über Termine von Teambesprechungen) an Frauen;
  4. Die Gefährdung der Existenz: wenn Zeitverträge auslaufen und nicht verlängert werden, weil der – aus dem Ausland stammende Professor – den Arbeitsplatz für seine Gattin benötigt.

Oder wenn kritische Personen trotz Zusage ihren Zeitvertrag nicht verlängert bekommen und sich die Wortbrüchigen winden, sie hätten ja loyal sein müssen – mit den Etablierten, gegen deren „Störenfried“.

  1. Demütigungen: Wenn ein (weitgehend unbekannter) Kunstprofessor Zeichnungen seiner Studentenschaft zerreißt, wenn sie ihm nicht gefallen, fügt er den StudentInnen (und der Kulturnation Österreich) nicht nur potenziellen finanziellen Schaden zu sondern attackiert die psychische Gesundheit. Sozial kompetent hingegen wäre, Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen und „Frühwerke“ zu respektieren.

Oder wenn eine Frau sich von der Schreibkraft zur Maturantin, Studentin, Promovierten, Habilitierten und international gesuchten Expertin entwickelt, nachdem ihr Zeitvertrag ausgelaufen ist, keine Verlängerung jedoch das Angebot erhält, wieder als Schreibkraft im Institut zu arbeiten.

  1. Bosheiten: in einer Universität wurde veranlasst, ein schweren Kasten im Gang so zu verschieben, dass der Zugang zum Damen-WC nicht mehr möglich war und die Studentinnen wie auch die damals einzige (!) Professorin den weiten Weg in die Gaststätte auf sich nehmen mussten.
  2. Elitenschutz: Zitat eines Rektors gegenüber einer Professorin: „Jemand aus der Lower Class kommt nie in die Upper Class“. Abwertungen von Personen, die in nichtwissenschaftlichen Qualitätsmedien publizieren als quasi Nestbeschmutzer.
  3. Es ist zu hoffen, dass frauenfeindliches Spotten in Lehrveranstaltungen der Vergangenheit angehört wie die ersten Sätze in der Vorlesung „Einführung in das juristische Denken“ (1962): „Ich sehe schon wieder so viele Damen! Meine Damen, was wollen Sie den hier? Wenn Sie ein Visitenkartendoktorat haben wollen, so studieren Sie doch Theaterwissenschaften – aber nehmen Sie doch Ihren Kommilitonen nicht die Plätze weg!“, oder in einem Seminar Ende der 1990er Jahre: „Meine Damen – setzen Sie sich in die letzte Bank, ich halte den Geruch von Menstruationsblut nicht aus!“

 

Forderungen

Gegen Gewalt hilft nur Öffentlichkeit:

Bereits in den späten 1980er Jahren hat sich ein Kreis innovativer WissenschaftlerInnen rund um die nachmalige Vizerektorin der Donau Universität Krems, seit 2009 Gründungspräsidentin der Berliner Universität für Weiterbildung und seit 2016 erste Rektorin der Fernuniversität Hagen, Ada Pellert kritisch mit den Organisationsformen von Wissenschaft und daher auch Universitäten auseinandergesetzt. Praktisch wie auch theoretisch ging es dabei um die Herstellung von Beziehungen zwischen Gesellschaft, Wissenschaft, Organisation und Lernen. (Pellert: 7) Dazu kritisiert Roland Fischer neben der Zersplitterung des Wissens vor allem die unbefriedigenden Entscheidungsstrukturen und das unterentwickelte Verhältnis der Universitäten zur Öffentlichkeit. (Fischer: 18 f.) Ich frage: welche Öffentlichkeit ist dabei gemeint? Interne oder externe? Nur eine positiv widerspiegelnde oder auch eine kritische, die Feudalstrukturen zu beseitigen verlangt?

Im Universitätsbetrieb zeigt sich noch immer das militärische Organisationsmodell, in dem eine Person viele befehligt, Schweigepflichten selbstverständlich erlebt werden und Widerspruch sanktioniert wird. Auch die klassische Organisationstheorie ignoriert den Menschen als Organisationsmitglied mit eigenen Zielsetzungen und eigenem Willen. (Pellert: 80) Das zeigt sich als klassisches Epistem struktureller Gewalt und betrifft Frauen noch mehr als Männer: dadurch dass wir alle zu Beginn unseres Lebens Weiblichkeit an unseren Müttern oder Mutterersatzpersonen wahrnehmen, liegt es nahe, die seinerzeitige stillschweigende Fürsorglichkeit immer und überall vorauszusetzen und Abweichungen als „Störung“ zu klassifizieren und beseitigen zu wollen um den ursprünglich vermeintlich paradiesischen Zustand wiederherzustellen.

Paradies: das bedeutet Einheit. Im Diesseits braucht es Einigung, d. h. Verzicht auf Informationsausschluss, Ausbeutung, Gewalt. Dazu dienlich wäre beispielsweise

  1. die ausdrückliche Verpflichtung und folglich Ausbildung von Führungskräften zur Gesundheitsförderung durch Vermeidung von Stresszufügung in Kommunikation und Strukturierung; stattdessen aktives Aufzeigen und unterstützendes Begleiten von Entwicklungsperspektiven, Zuerkennung und Nachweis von dazu dienlichen Handlungsspielräumen sowie Möglichkeiten von Einflussnahme.
  2. Dokumentation, Einsichtsrechte und Veröffentlichungspflichten bei nicht nur personellen sondern auch sozialen
  3. Regelmäßige öffentliche Rechenschaftsberichte samt Monitoring von Einrichtungen außerhalb des beobachten Systems und regelmäßiger Evaluation des Gesamtprozesses.

Dazu müssten sich Universitäten allerdings als „lernende Organisationen“ verstehen!

 

 

Literatur

Baer Susanne, Rechtswissenschaft. In: Braun v./ Stephan s. u.

Bauer Joachim, Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Karl Blessing Verlag,  München 2011.

Beckenkamp Martin, Wissenspsychologie. Zur Methodologie kognitionswissenschaftlicher Ansätze. Asanger, Heidelberg 1995.

Braun Christina von / Stephan Inge (Hg.), Gender Studien. Eine Einführung.  J. B. Metzler,  Stuttgart 2000.

Devereux Georges, Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. Suhrkamp TB, Frankfurt / Main 1984/ 882.

Dinges Martin, Formenwandel  der Gewalt in der Neuzeit. Zur Kritik der Zivilisationstheorie von Norbert Elias. In: Sieferle R. P. / Breuninger H. (Hg.) s. u.

Feyerabend Paul, Erkenntnis für freie Menschen. Veränderte Ausgabe, Suhrkamp TB, Frankfurt/ Main  1980.

Feyerabend Paul, Wider den Methodenzwang. Suhrkamp TB, Frankfurt/ Main  1986/ 19997.

Fischer Roland, Vernetzung und Widerspruch. Einführende Thesen zum Unternehmen. In: Pellert s. u.

Friedrichs Julia, Gestatten: Elite. Auf den Spuren der Mächtigen von morgen. Hoffmann und campe,  Hamburg 20082.

Hartmann Michael, Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft In Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft. Campus,  Frankfurt / Main 2002.

Naidoo Jennie/ Wills Jane, Lehrbuch der Gesundheitsförderung. Herausgegeben von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln; Verlag für Gesundheitsförderung Gamburg 2003.

Pellert Ada (Hg.), Vernetzung und Widerspruch. Zur Neuorganisation von Wissenschaft.  Profil, München Wien 1991.

Perner Rotraud A., Die Überwindung der Ich-Sucht. Sozialkompetenz und Salutogenese. Studienverlag, Innsbruck 2009.

Pilgrim Volker Elis, Dressur zum Bösen. Warum wir uns selber und andere kaputt machen. Rowohlt TB, Reinbek 1986.

Posern Thomas, Strukturelle Gewalt als Paradigma sozialethisch-theologischer Theoriebildung. Peter Lang, Frankfurt /Main 1992.

Schwarz Gerhard, Die „Heilige Ordnung“ der Männer. Patriarchalische Hierarchie und Gruppendynamik. Westdeutscher Verlag, Opladen 1985/ 872.

Senge Peter M., Die fünfte Disziplin. Klett Cotta, Stuttgart 1996/ 19997.

Senske Frank, Wissen schafft Wüste. Über Irrtum und Obsession der Natur-Verwissenschaftlichung. Asanger, Heidelberg 1995.

Sieferle Rolf Peter / Breuninger Helga (Hg.), Kulturen der Gewalt. Ritualisierung und Symbolisierung der Gewalt in der Geschichte. Campus, Frankfurt / Main 1998.

Sonntag Michael (Hg.), Von der Machbarkeit des Psychischen. Centaurus, Pfaffenweiler 1990.

Wiesner Heike, Die Inszenierung der Geschlechter in den Naturwissenschaften. Wissenschaft und Genderforschung im Dialog. Campus, Frankfurt / M. 2002.

 

Die Autorin

Rotraud A. Perner, JG 1944, Dr. iur., MTh (evang.), akadem. zertifizierte Erwachsenenbildnerin (PH Wien), lizensierte Psychotherapeutin / Psychoanalytikerin und Gesundheitspsychologin, Feldsupervisorin (ÖBVP), langjährige Universitätslektorin (dzt. Institut für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien) und Gastprofessorin (Klagenfurt, Krems) mit Schwerpunkten Gewaltprävention, Gesundheitskommunikation, Sexualität, langjährige Gerichtssachverständige für Psychotherapie, seit 2016 Hochschulpfarrerin im Ehrenamt für alle niederösterreichischen Universitäten.

Umfangreiche „wissenschaftspoetische“ Fachpublizistik s. www.perner.info.

 

Fußnoten

[1] http://www.bmg.gv.at/home/Gesundheit_und_Gesundheitsfoerderung.

[2] Was viele nicht wissen (wollen), ist, dass dank der bildgebenden Methoden in der Gehirnforschung die Beeinträchtigungen von psychischer wie physischer Gewalt sichtbar und damit nachweisbar gemacht werden können. Man kann daher für die Zukunft Musterprozesse erwarten, in denen (ähnlich wie bei langandauernd zugefügten Schlafstörungen) Körperverletzung eingeklagt wird.

[3] Wobei zu hinterfragen wäre, ob Psychopathen in Führungspositionen drängen, um nicht mit ihrer mangelnden Sozialkompetenz konfrontiert zu werden – oder ob umgekehrt die Strukturen die Entwicklung von Psychopathien (z. B. aus Angst vor Enttarnung fachlicher wie auch sozialer Unzulänglichkeiten) fördern.

[4] So wurde 2016 der Rektor des Salzburger Mozarteums von einem Münchner Schöffengericht zu einem Jahr und drei Monaten bedingter Haft wegen sexueller Nötigung verurteilt. (Salzburger Nachrichten, 14. Mai 2016, S. 10)

Rotraud A. Perner


Ursprünglich erschienen in:
Die Furche: 15-10-2015

 

Immer wenn ein Gewalttäter blindwütig Menschen niederschlachtet, folgt der Ruf nach schärferen Waffengesetzen. Ich nenne das „Dornröschen-Syndrom“: Man wähnt mit dem Verbot der Mittel – der Spindeln – bereits die Zielverwirklichung – den Stich zum hundertjährigen Schlaf – verhindern zu können.

Das mag teilweise für die tragischen Tötungen stimmen, wenn ein Kind mit Vaters Schießeisen herumgeballert hat … aber auch dieser Täter ahmt nur nach, was er oder sie anderswo gesehen hat: Wenn man Wut gegen jemand empfindet, schießt man auf ihn, egal ob mit einer Schusswaffe oder der Schreibfeder oder auch dem gesprochenen Wort.

Der Ursprung der Gewalt besteht in Wut und Hass – auf einzelne Personen oder Menschen überhaupt. Man hasst die Menschen, die nicht so sind wie man sie haben will. Unterwürfig etwa, unterlegen – oder einfach „menschlich“. Liebevoll.

Analysiert man die zwischenzeitlich zahlreich nachgeahmten sogenannten School Shootings – oder auch die schulunabhängige Workplace Violence mittels Schusswaffen – so findet man als Urszene zuerst reale, später in Folge neurotisch verankerte verbale Demütigungen. Neurotisch bedeutet in meinem Sprachgebrauch nicht psychische „Krankheit“ sondern erlittene Verletzung, die in neuronalen Verschaltungen verankert ist und durch ursprungsähnliche Trigger, das sind Auslösereize, wiederbelebt werden – sofern man nicht bewusst Gegenreaktionen eingeübt und damit zur Verfügung hat.

Gewaltprävention ist ein Bildungsproblem!

Alles Lernen besteht aus bewusstem oder unbewusstem Einüben von Verhaltensmodellen und dem Erfolg der Anerkennung bei „Repetition“. Dieses Wort besitzt Mehrfachsinn: es weist nicht nur auf die Möglichkeit des Wiederholens von Prüfungsaufgaben hin (was leider vielfach als Strafe statt als Chance vermittelt wird, weshalb die Bemühungen um Beseitigung dieser Usance, vor allem auch deren Begründungen, sehr kritisch betrachtet werden sollten) sondern ebenso auf die Wirksamkeit der mehrmaligen Schussabgabe schnell nacheinander. Beide Phänomene beinhalten die Entscheidungsmacht „Stärkerer“ – Lehr- oder Erziehungsbeauftragter wie auch derjenigen, die die Gewaltmonopole des Staates ausüben dürfen. Man muss nur lange genug in Sprache oder Körpersprache repetieren, dass man den anderen nicht mag, nicht einer Antwort würdigt, von Gemeinschaftlichkeit ausschließt oder mobbt, bloßstellt oder durch Übersehen demütigt … irgendwann werden die letzten Selbstbehauptungskräfte so stark spürbar werden, dass sich die klein gemachte Person wird wehren wollen bzw. müssen um nicht ganz unterzugehen. Und genau da stehen wir heute anderen Vorbildern gegenüber als unsere Vorgenerationen. „Aber ich muss doch dem/ der sagen, was nicht in Ordnung ist!“ protestieren dann Eltern, Lehrkräfte oder Vorgesetzte, wenn man ihnen erklärt, dass viele Formen von Gewalt Folgen ihrer Abwertungen darstellen. Grenzen setzen ist schon wichtig – es kommt aber auf die Art an, wie das geschieht, und zwar nicht nur auf die jeweilige Formulierung sondern vor allem auf die Sinngebung, die nonverbal „verkörpert“ wird.

Gewalttaten entspringen nicht einer einmaligen Spontanerregung. Sie wachsen langsam und meist verborgen im „Schatten“ eines anderen Gewalttäters, in dessen Verhalten man mit der Zeit hineinschlüpft, weil dies der einzige sichere Ort scheint. Man kann das durchaus als Gehirnwäsche bezeichnen: Es wird die Mentalität des Siegers, der über Leichen geht, vermittelt – nicht nur von den Action-Helden auf den Bildschirmen, sondern von all den Tyrannen und Tyranninnen, die ihren Willen um jeden Preis – auch den des Seelenmordes – durchsetzen wollen.

Strengere Waffengesetze sind dort sinnvoll, wenn sie deren Erwerb durch psychisch labile Personen erschweren (was daher „repetitiv“ geprüft werden müsste). Gewalttaten verhindern können sie nicht – auch nicht die zielgerichtete Gewalt an Schulen oder anderen Arbeitsplätzen, wo man sich doch so leicht Anleitungen zum Bombenbasteln aus dem Internet herunterladen kann.

Viel zielführender wäre die Vermittlung von Wissen über psychische Reaktionen auf Selbstwert schädigendes Verhalten (oft eine Form von Hochstress) und die Vermittlung von Stressbewältigungsmethoden. Diese könnten sowohl im Biologieunterricht als auch in allen (!) anderen Fächern, vor allem auch in der einstmals zu Recht so genannten Leibeserziehung – die nämlich mehr umfassen sollten als nur „Bewegung und Sport“! – stattfinden.

Nur was man kennt, kann man auch kontrollieren und beherrschen, daher gilt es vor allem, sich selbst zu kennen. Menschlichkeit – Humanität – ist eine Kulturleistung, deswegen braucht man dafür Vorbild und Anleitung, was bedeutet: Eltern, Lehrkräfte, Vorgesetzte, die selbst fähig sind, auf Hass- und Racheaktionen zu verzichten und stattdessen ihre Beziehungsfähigkeit im respektvollen Bearbeiten von unerwünschten Vorkommnissen unter Beweis stellen können. Der Wiener Kinderschutzexperte Holger Eich schrieb einstmals in einem Editorial der Zeitschrift „Aufrisse“, nicht jeder, der das Wort Rosa Luxemburgs im Munde führe, vertrete auch ihren Geist. Analog kann man betrübt feststellen, dass auch nicht alle, die Martin Buber und seine Plädoyers für dialogischen Umgang vom Ich zum Du zitieren, dessen Geist verinnerlicht haben.

Hass – aber ebenso Angst – verengt: nicht nur die Sichtweise sondern auch die Atmung und die Herzkrankgefäße. Man wird selbst zur Waffe. Das Gegenmittel gegen Angst und Hass – denn dieser kann meist die Folge von jener entdeckt werden – ist Herzoffenheit, Interesse, Verständnis und Geduld. Dafür sollten alle pädagogischen Berufe ausgebildet werden – und dafür sollte es auch massenmediale Anleitungen für alle Menschen geben, denn jeder Mensch liefert ein Vorbild – ob er oder sie sich dessen bewusst ist oder nicht. Das heißt für mich Bildungsreform – und nicht eine ideologisch oder ökonomisch motivierte Verwaltungsreform, wie sie derzeit benannt wird,  quasi in  einer Mogelpackung.