Wir leben in einer Zeit der Schlagworte – „Eyecatcher“ oder auch „Earcatcher“, wenn sie uns „um die Ohren geschlagen“ werden oder „die Augen aushauen“ und quasi „ blind“ machen. Mit dem Wort „blind“ wird im Deutschen der Automatismus angesprochen, dass bei starker emotionaler Erregung die Vernunft schrumpft bis verschwindet: blind vor Angst, blind vor Wut, aber auch blind verliebt.

Solche Erregungszustände entwickeln sich dann, wenn mit dem Lesen oder Hören eines Wortes eigene emotionale Erlebnisse aus dem „biographischen Archiv“ abgerufen werden, aber leider läuft das für die meisten Menschen gar nicht bewusst ab. Erst auf professionelles Befragen hin wird die nötige Distanz vom Beobachten zum Fühlen hergestellt (übrigens eine der wesentlichen Methoden und Erfolge in allen psychotherapeutischen Verfahren, ebenso auch in umgekehrter Wirksamkeit um Menschen zu helfen verlorenes Fühlen wieder zu finden).

So entwickeln wir alle zumindest unbewusste Gefühlsreaktionen wenn wir plötzlich „modern“ gewordene Worte wie Mobbing, Stalking oder neuerdings Resilienz aufnehmen. Die Phänomene gab es immer schon – nur wurden sie früher mit „die sind mir aufsässig“ umschrieben bzw. „der lässt mir keine Ruhe“ oder als Autosuggestion „das muss man einfach wegstecken“. Mit den neuen Kurzbezeichnungen gewinnen diese unerwünschten oder auch erwünschten Erscheinungsformen menschlichen Verhaltens Diagnose-Charakter und wachsen sich zu Verboten oder Geboten aus – und außerdem bilden sie den Nährboden für zahlreiche psychologisch fundierte Trainingsangebote (was die Branche freut und die KonsumentInnen auch, wenn das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt!), aber auch die Frage aufkommen lässt, weshalb solcherweise gerade in der gegenwärtigen Arbeits- oder Privatwelt dieser jeweils spezifische Trainingsbedarf entsteht.

Das neueste „Schlagwort“ lautet „Achtsamkeitstraining“. Es gründet sich oft auf das hinduistisch-buddhistische „ahimsa“ – und bekennt die Absicht, nicht zu schaden, verletzen oder gar zu töten. Diese Form von Gewaltvermeidung kann durch bewusstes Hinschauen, Hinhören und Hinfühlen geschehen und wird als Sozialkompetenz eingefordert weil so viele Menschen im gesteigerten Zeitdruck des 21. Jahrhunderts auf Empathie verzichten (müssen), denn: Fühlen braucht Zeit – aber auch Mut. Einfühlung berührt, bewegt, ergreift und gelegentlich erschüttert sie. Achtsame Menschen haben „gelernt“ (bzw. diese Fähigkeit ihrer frühen Kindheit nicht verloren), synchron zu spüren, wer was wie erlebt (sich selbst mitgemeint). Aus dieser Erfahrung heraus können sie auch erahnen, wer wie auf ihr Verhalten reagieren wird.

Frauen können das meist wesentlich besser als Männer, denen traditionell Fühlkompetenz zu Gunsten der beabsichtigten Eignung als „alexithyme“ (d. h. fühlunfähige) Kriegs- oder Arbeitshelden aberzogen wurde (nur Künstler durften sich Reste bewahren). Deswegen finden es viele Männer befremdlich, dass sich Frauen nicht wertgeschätzt, missachtet, gedemütigt und psychisch verletzt fühlen, wenn ihre Anrufe, SMS oder Briefe nicht beantwortet werden. In der Psychologie schreibt man Frauen daher „Beziehungsorientierung“ zu und setzt das in Gegensatz zur angeblichen „Sachorientierung“ der Männer. Dabei sollte doch allen klar sein, dass der achtsame Umgang mit Sachen – Autos oder Werkzeug – gegenüber dem Umgang mit Menschen (egal wie alt, gesund, gebildet etc.) weit nachrangig ist.